Anneliese Wagner, NS-Zeitzeugin aus Enns: "Müssen Menschenwürde schätzen und wahren"
ENNS. Anneliese Wagner wird heuer 86 Jahre alt. Aufgewachsen ist sie in der Ennser Stiegengasse – mitten in einer Zeit, die von Krieg, Besatzung und Entbehrung geprägt war. Heute erzählt sie als Autorin, Frauenforscherin und Mitglied beim Museumverein Lauriacum von ihren Erinnerungen und von Lehren, die bis heute gültig sind.
„Ich hatte eine schwierige Kindheit, mein Vater war bis 1947 in Gefangenschaft und für mich bis dahin ein Fremder. Meine Mutter hat viel geweint. Trotzdem habe ich Geborgenheit gespürt, weil wir gebetet haben und die Mutter uns stark gemacht hat.“
Das Spiel mit dem Ernstfall
Die Kriegsjahre sind untrennbar mit den Alarmen verbunden. „Wir mussten sofort in den Keller, wenn die Sirenen heulten. Die Erwachsenen packten uns Rucksäcke, die Nachbarn sind auch gekommen.“ Ihre Mutter schrieb einmal an ihren Ehemann im Krieg: „Bei uns ist alles gut so weit. Die Kinder spielen 'Luftschutzalarm'.“ „Man wollte uns Kinder fernhalten von den Schrecken des Krieges“, erklärt Wagner 80 Jahre später.
Doch die Schrecken holten die Menschen immer wieder ein. Besonders eingebrannt in das Gedächtnis der damals sechsjährigen Anneliese hat sich der 3. Mai 1945: „Da sind junge Burschen am Heimweg – einer wollte nach Sierning – am Eichberg erschossen worden. Zwei Tage bevor der Krieg offiziell vorbei war. Manche wurden sogar auf der Ennsbrücke aufgehängt. Demonstrativ. Das hat uns fassungslos gemacht.“ Am 5. Mai schließlich wehten weiße Leintücher am Stadtturm – das Signal für Frieden. „Die SS-Leute waren wütend, aber für uns war es ein Aufatmen. Als die Amerikaner in Enns einzogen, haben wir gesagt: Gott sei Dank kommt die Rettung.“
Eigenes Wohnzimmer besetzt
Die Befreiung brachte auch neue Erfahrungen. „Die Amerikaner haben Wohnungen gesucht – bei uns sind sie für sechs Wochen einquartiert gewesen. Sie haben in unserer Küche mit dem Kachelofen gegessen und haben ihre Lebensmittel von den USA mit uns geteilt. Das war alles neu, aber wir haben gelernt, damit umzugehen.“
Propaganda im Kindergarten
Als Kind musste Wagner die politischen Rituale über sich ergehen lassen: „Im Kindergarten haben wir beim Verabschieden 'Heil Hitler' schreien müssen. Auch in der Schule. Für uns Kinder war das normal – Erwachsene haben nicht darüber geredet. Erst später habe ich begriffen, wie absurd das war.“
Kraft im Glauben und Kirche
Kraft gab in diesen Jahren die Kirche. „Die Kirche war voll, auch wenn sie nicht beheizt war. Man hat dort Zuflucht gefunden, konnte reden. Alle haben sich das Gleiche gewünscht: Frieden.“ Heute gestaltet Wagner selbst Frauenmessen mit, immer am ersten Mittwoch im Monat. „Wir bereiten die Texte und Lieder vor, singen gemeinsam und trinken danach Kaffee. Das ist aus den Erfahrungen dieser Zeit herausgewachsen – von Frauen für Frauen.“
Ein Fest der Zuversicht
Unvergesslich blieb auch das Jahr 1948, als der Stadtturm neue Glocken erhielt. „Die alten waren für den Krieg eingeschmolzen worden. Obwohl alle arm waren, hat die Bevölkerung gespendet. Die Glocken gaben uns Sicherheit – sie waren ein Zeichen: Es geht wieder bergauf.“
Frauen als Stützen des Alltags
Besonders wichtig ist Wagner, dass die Rolle der Frauen nicht vergessen wird. „Während des Krieges haben die Frauen alles gemanagt: Haushalt, Kinder, oft auch Arbeit am Feld. Sie haben unglaublich viel geleistet, sind aber lange kaum erwähnt worden. Mir ist es ein Anliegen, ihre Geschichten aufleben zu lassen – von der Türmerin bis zur Hebamme, die in den 1950ern noch viele Heimgeburten begleitet hat.“
Demokratie wertschätzen
Für Wagner ist eine Botschaft zentral: „Wir leben seit 70 Jahren in einer Demokratie. Viele sind gleichgültig geworden und sehen gar nicht, dass das nicht selbstverständlich ist. In der NS-Zeit wurden Menschen ermordet, wenn sie anders waren. Heute darf jeder sein, wie er ist. Diese Würde müssen wir schützen.“
Geschichte lebendig halten
Als Museumvereinsmitglied und Mitbegründerin der ARGE „Frauen in der Geschichte der Stadt Enns“ sorgt sie dafür, dass diese Erinnerungen nicht verloren gehen. „Es ist wichtig, dass Zeitzeugen erzählen, solange sie können. Wenn wir Freiheit und Zusammenhalt bewahren, bleibt unsere Zukunft sicher.“
Ein Packerl Zucker als Symbol des Zusammenhalts
Eines der vielen, aber für Anneliese Wagner bis heute beeindruckenstes Beispiel für Zusammenhalt ist: „Als mein Vater 1947 endlich aus der Kriegsgefangenschaft freigelassen wurde, schickte mich mein Großvater, also der Vater meines Papas, rüber nach Ennsdorf. Dort sollte ich der Großmutter, die bei einem Bauern als Feldarbeiterin half, die frohen Botschaften ausrichten. Ich hab eine Freundin mitgenommen, wir haben lang gehadert, bis wir uns in die von Russen besetzte Zone getraut haben. Als es dann später auch die Nachbarn mitbekommen haben, hat uns eine Produktionsmitarbeiterin in der Ennser Zuckerfabrik ein Packerl Zucker geschenkt, weil sie sich so für und mit uns gefreut hat. Das war herzerwärmend. Viele Frauen, die ihre eigenen Männer selbst verloren haben, haben sich dennoch für die anderen Frauen gefreut, wenn diese die Chance für ein Wiedersehen hatten.“
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