Leben mit Autismus: Wenn die Wahrnehmung zur absoluten Herausforderung wird
HORN. „Können Sie Ihr Kind nicht vernünftig erziehen?“ oder „A g“sunde Watschn hat noch keinem geschadet“, solche und ähnliche Aussagen muss sich Alexandra Dangl leider häufig anhören. Grund dafür ist das Verhalten ihres fünfjährigen Sohnes. Nils ist Autist. Er liebt Autos, Straßen und Züge.
Im Vorjahr war er entwicklungsmäßig etwa auf dem Stand eines Zweijährigen. Nun hat Nils deutlich aufgeholt und beginnt zu sprechen. Aufgrund seiner Erkrankung an frühkindlichem Autismus hat er trotzdem nach wie vor Probleme im Schlaf-, Reinlichkeits-, und auch im Essverhalten. Nils Durchschlafprobleme machen seinen Eltern schwer zu schaffen. Aufgrund seiner Erkrankung benötigt er wenig Schlaf und wacht gegen 23 Uhr zum ersten Mal wieder auf. Zwischen zwei und drei Uhr früh das nächste Mal und gegen vier Uhr ist er putzmunter. Seine Eltern teilen sich diese „Nachtschichten“, dennoch macht sich der permanente Schlafmangel bei ihnen bemerkbar. Wertvolle Zeit zu zweit kommt so gut wie immer zu kurz.
Definition Autismus
Autismus ist eine Wahrnehmungsstörung aller fünf Sinne, entsprechend wirkt sich die Krankheit in all diesen Bereichen aus. „Mal eben mit den Jungs beim Schnellimbiss einen Burger holen ist nicht möglich“, erzählt die Mutter zweier Söhne im Tips-Interview, „Nils hat nicht nur seinen ganz eigenen Speiseplan sondern reagiert auch sehr empfindlich auf jede Veränderung. Schnitzel, Leberkäse, Frankfurter und Pommes. Alles andere isst er nicht oder nur sehr selten. Wir unterstützen ihn daher mit speziellen Vitaminpräparaten um eine gesunde Entwicklung zu gewährleisten.“
Sein Problem mit unbekannten Situationen und Menschen macht sich in allen Lebenslagen bemerkbar: sei es im Kindergarten, bei Ärzten, beim Einkaufen oder im Urlaub.
Zitat, Alexandra Dangl: „Ich denke mir oft, man wird von der Gesellschaft bestraft, wenn man ein Kind mit besonderen Bedürfnissen hat.“
„Wir versuchen, ihm ein möglichst „normales“ Leben zu bieten und ihm all das zu ermöglichen, das auch gesundes Kinder erleben dürfen,“ erzählt die engagierte Hornerin, die aus eigenem Antrieb eine Selbsthilfegruppe für Eltern mit autistischen und Kindern mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (AD(H)S) gegründet hat (siehe Info-Box nächste Seite).
Beide Kinder sind erkrankt
Ihre beiden Söhne sind Autisten. Beim Älteren wurde zudem noch eine Form des Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms diagnostiziert. Bei Nils ist der Autismus bedeutend stärker ausgeprägt als bei seinem Bruder. In manchen Situationen verhält er sich für Außenstehende unerwartet und oft irritierend.
Autismus hat viele Formen. Die Symptome drehen sich typischerweise um soziale Kompetenzen, sprachliche Schwierigkeiten, Probleme in der nonverbalen Kommunikation und wenig Flexibilität im Verhalten. Die intellektuelle Begabung der Betroffenen umfasst das gesamte Intelligenzspektrum und reicht von geistiger Beeinträchtigung bis zu Hochbegabung. Einer der berühmtesten Autisten war Albert Einstein. Auch Nils zeigt besondere Begabungen. Obwohl sich der Fünfjährige sprachlich noch kaum mitteilt, kann er bereits buchstabieren.
Kaum Flexibilität
Kinder im Autismus-Spektrum haben oft ein Bedürfnis nach Beständigkeit und halten an immer gleichen Abläufen und Routinen fest. So auch Nils. Im Kindergarten muss beispielsweise das Dachfenster stets geschlossen sein wenn er dort ist und auch seine heißgeliebten aufgebauten Straßen müssen für den nächsten Spieltag erhalten bleiben. Einfühlsam wird darauf im Kindergarten Rücksicht genommen. Nachdem sich Nils kaum mitteilen kann, dokumentieren die Betreuerinnen anhand eines eigenen Tagebuchs seinen Tagesablauf für die Eltern. Entsprechend dankbar zeigt sich die Familie für dieses außergewöhnliche Engagement: „Was für andere Eltern eine Selbstverständlichkeit ist, der Kindergarteneintritt, gestaltete sich für Nils zu Beginn zu einem Fiasko. Dank der Unterstützung von Bürgermeister Jürgen Maier (VP), der sich für eine Stützkraft einsetzte und der großartigen, liebevollen Betreuung im Kindergarten in der Scholzstraße haben wir nun den optimalen Betreuungsort für unseren Nils gefunden. „
Und plötzlich die Explosion
Overload, Melt- und Shutdown heißen die Fachbegriffe für die gefürchtete Überlastung, die Autisten immer wieder durchleben.
Der Overload ist eine Überbelastung infolge von Reizüberflutungen. Geräusche, Bilder, Gerüche oder auch Gefühle reihen sich aneinander und kumulieren sich zu einem undurchdringlichen Netz. Alles wird zu viel. Unwichtige Dinge können nicht herausgefiltert werden und so entsteht im Kopf ein Chaos aus Eindrücken und Gefühlen, die total überlasten.
Die Folge eines Overloads ohne Rückzugsmöglichkeit kann der sogenannte Meltdown (Kernschmelze) sein, der für Außenstehende aussieht wie ein Wutausbruch. Es ist ein Akt der Verzweiflung, weil alles entgleitet. Wenn kein Rückzug aus dem Overload möglich ist, kann sich dieser auch zu einem Shutdown (Abschalten) entwickeln.
Immer nur häppchenweise
Ein Arztbesuch mit einem Kind ist sicherlich für etliche Eltern eine Herausforderung. Für Familie Dangl ist es ein Horror. Monatelang wird der Besuch beim Doktor geübt. Jedes Mal bleiben sie einige Minuten länger in der Praxis, damit sich Nils an die Umgebung, Menschen, Geräusche und Gerüche gewöhnen kann. Doch viele Ärzte verweigern die Behandlung. Zu riskant und unberechenbar. Was, wenn der Junge während der Behandlung plötzlich einen „Overload“ erleidet? Verzweifelt ist die Mutter nun auf der Suche nach einem Zahnarzt, der unter Narkose behandelt.
„Man kann es Nils nicht entsprechend erklären- so wie bei einem gesunden Kind. Er versteht nicht, warum ihm ein brummender Bohrer in den Mund geschoben wird“, so Alexandra Dangl. „Die Tragik an der Geschichte ist ja auch, dass es für einen Autisten nicht einfach so möglich ist, sich für eine Stunde ins Auto zu setzen um in die Zahnambulanz gebracht zu werden. Und noch weniger, dort als akuter Schmerzpatient stundenlang darauf zu warten, für einen Termin eingeschoben zu werden.“ Trotzdem höre sie diesen Ratschlag immer wieder, selbst von fachkundigen Medizinern, gibt sie kopfschüttelnd zu bedenken.
Besonders schlimm gestaltet sich die Suche nach Therapiemöglichkeiten in der näheren Umgebung sowie eine entsprechende finanzielle Unterstützung dafür zu finden. „Sowohl das Einzugsgebiet, als auch der Bedarf an Therapieplätzen ist viel zu hoch. Die einzige Behandlung, die Nils momentan erhält ist Logopädie“, berichtet die Mutter.
Mit der Diagnose völlig alleine gelassen
Nach der Diagnose der schwerwiegenden Autismuserkrankung von Nils fiel Familie Dangl sprichwörtlich aus allen Wolken. „Generell ist man als Eltern eines autistischen Kindes völlig auf sich alleine gestellt. Ich habe mir alles selber zusammengesucht, in mühevoller Kleinarbeit“, gibt Dangl zu Bedenken und präsentiert mehrere Ordner gefüllt mit Info-Material, Kontakt,- und Anlaufstellen, Therapiemöglichkeiten, Zeitungsausschnitten und vielem mehr. Genau das war auch der Grund für die Gründung der Selbsthilfegruppe. Durch ihre wertvolle Vorarbeit kann sie nun vielen Hilfesuchenden mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Ihr Wunsch nach mehr Empathie für Autisten ist groß: „Einem körperlich Beeinträchtigten sieht man seine Erkrankung an. Nicht so einem Autisten. Hier bedarf es der genaueren Aufklärung und dem nötigen Verständnis innerhalb der Gesellschaft. Deshalb freue ich mich über jeden einzelnen Teilnehmer unserer Info-Veranstaltungen und Treffen.“
INFO & KONTAKT
Vortrag mit C. Engelhardt „Einzigartig anders - und ganz normal“
Mi, 27. 09. um 18.30 Uhr im K-Haus, Baptist Stöger-Platz 2, 3730 Eggenburg
Eintritt: freiwillige Spende
Anmeldung bis 25.09.
Kontakt und Anmeldung:
Alexandra Dangl
Tel.: 0650/7218874
e-mail: SHG-Eggenburg@gmx.at
Termine der Selbsthilfegruppen-Treffen
06.10.2017 um 19 Uhr
24.11.2017 um 19 Uhr
19.01.2018 um 19 Uhr
im ElkiZ-Eggenburg, Grätzl 3
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