Nicht alle jubelten: Der „Anschluss“ in Steyr im März 1938
STEYR. „Der sogenannte Anschluss liegt 83 Jahre zurück, die Erinnerung daran wird immer blasser“, weiß die Steyrer Geschichtskennerin Waltraud Neuhauser-Pfeiffer. Im Folgenden rollt sie die Ursachen und unheilvollen Folgen des 12. März 1938 (Tag des Einmarsches der deutschen Truppen in Österreich) anhand der Vorgänge in Steyr auf - als Mahnung für die Gegenwart und Zukunft.
Schon am 5. März 1938, sieben Tage vor dem „Anschluss“, fand eine nationalsozialistische Großdemonstration auf dem Steyrer Stadtplatz statt. Eine erste Hakenkreuzfahne signalisierte auf dem Rathaus „Anschlussbereitschaft“. Noch in der Nacht des 11. März 1938, nach dem Rücktritt des österreichischen Bundekanzlers Kurt Schuschnigg, feierten die Steyrer Nationalsozialisten den bevorstehenden Anschluss mit einem Fackelzug.
Am 13. März 1938 erreichten Vorpatrouillen der deutschen Wehrmacht Steyr. Neuer Oberbürgermeister wurde Hans Ransmayr. Am 14. März bejubelten am Stadtplatz etwa 18.000 Menschen den Einmarsch der deutschen Wehrmacht und der Steyrer Mundartdichter Gregor Goldbacher fasste in Verse, was viele dachten: „Mein Hoamat, dös is greßa worn ...“.
„Wir hörten, wie sie mit Fackeln vorbeimarschierten“
Wie anders hatte doch Lotte Schimmerling, Tochter des jüdischen Realitätenhändlers Alfred Schimmerling und seiner Frau Gisela, dieses Ereignis in Erinnerung. 1997 schilderte sie Waltraud Neuhauser-Pfeiffer und Georg Neuhauser in einem Interview: „Als Hitler einmarschiert ist, haben wir die Jalousien zugemacht. Wir Kinder lagen bei den Eltern im Bett und hörten, wie sie draußen mit den Fackeln vorbeimarschierten.“
Es sollte noch viel schlimmer kommen. Steyrer Juden mussten ihre Heimatstadt verlassen und flohen in andere Länder. Familien wurden gewaltsam auseinandergerissen. Ältere und Frauen mit kleinen Kindern waren oft nicht in der Lage zu emigrieren. Viele wurden deportiert und ermordet. Am Steyrer Jüdischen Friedhof erinnert heute eine Gedenktafel an 86 Holocaustopfer der Jüdischen Kultusgemeinde. Jene, die überlebt hatten, waren nach dem Krieg in ihrer ehemaligen Heimat nicht mehr willkommen. Nach Steyr kehrten nach Kriegsende nur das Ehepaar Max und Hermine Fürnberg und Friedrich Uprimny mit Frau und Tochter zurück.
Steyr, eine Stadt stirbt
Die hohe Arbeitslosigkeit durch die Weltwirtschaftskrise trieb in den 1930er-Jahren immer mehr Arbeiter in die Arme der NSDAP. Anfang 1930 war fast jeder Vierte Arbeitslosen- oder Notstandsunterstützungsbezieher, 1938 schon jeder Zweite, die „Ausgesteuerten“ eingerechnet. Sprengstoffanschläge der illegalen Nationalsozialisten waren an der Tagesordnung. Eine führende Rolle bei der Gründung von nationalsozialistischen Organisationen spielte dabei der Steyrer Arbeiter August Eigruber, ein gelernter Feinmechaniker, der schon 1922, als Fünfzehnjähriger, der NSDAP beitrat, NS-Jugendgruppen gründete und bereits mit 31 Jahren Gauleiter von „Oberdonau“ wurde. Noch im April 1945 ließ er alle inhaftierten Oberösterreicher im KZ Mauthausen ermorden, sein letztes Kriegsverbrechen. Im August 1945 von den Amerikanern verhaftet, wurde er zum Tode verurteilt und in Landsberg in Bayern hingerichtet.
Verfolgung...
Mit dem Anschluss begannen Verfolgung und Terror. Juden, Regimegegner, vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten, aber auch Menschen mit christlicher Gesinnung, Zeugen Jehovas, Behinderte, Homosexuelle, Roma und Sinti wurden über Nacht zu Menschen, die nicht mehr der „Volksgemeinschaft“ angehörten.
Bald nach dem Anschluss wurde die Steyr-Daimler-Puch AG zu einem Rüstungsgroßbetrieb umgebaut. Die Zahl der Beschäftigten erhöhte sich von 7.000 auf ca. 50.000 bis 1944, wobei die Hälfte Zwangsarbeiter waren. In Steyr wurden zahlreiche Arbeitslager errichtet, die meisten davon in Münichholz. Eines der ersten Außenlager des KZ Mauthausen war ab März 1942 das KZ Steyr-Münichholz, in dem 1.000 bis 3.000 Häftlinge verschiedener Nationalitäten vor allem für die Rüstungsindustrie eingesetzt waren.
... und Widerstand
In den Steyr-Werken regte sich Widerstand unter den Arbeitern. Viele von ihnen wurden aufgespürt, verhaftet und zum Tode verurteilt. Franz Draber und Josef Bloderer gelang am 30. November 1944 die Flucht aus der Todeszelle in München-Stadelheim, Karl Punzer wurde wieder gefasst und ebenso wie Johann Palme, Johann Riepl, Anton Ulram, Toni Koller und Josef Petinger hingerichet. Ermordet wurden auch Bertl Konrad, Alois Kisely, Hans Brandtner, Friedrich Derflinger, Ferdinand Siegmund, Willy Gruber und Hans Wiesbauer. Herta Schweiger, eine Rotkreuzschwester, die Geld für Hinterbliebene von Opfern sammelte und KZ-Häftlingen half, wurde verhaftet und starb 1941 in der Kerkerzelle an den Folgen der Misshandlungen. Otto Pensl, der bekannte Marathonläufer, und der KPÖ-Funktionär Hans Buchholzer wurden nur wenige Tage vor Ende des Zweiten Weltkrieges, am 28. April 1945, im KZ Mauthausen ermordet.
Das Ende des Krieges
Im Juli 1945 wurden Straßen im Stadtteil Münichholz nach im Widerstand ermordeten Freiheitskämpfern umbenannt.
Am 5. Mai 1945 wurde Steyr durch die 71. US-Infanterie Division befreit, gefolgt von sowjetischen Truppen einige Tage später. Laut Schätzungen forderte der Zweite Weltkrieg insgesamt 80 Millionen Tote, die Opfer von Holocaust (in Österreich 65.000 Jüdinnen und Juden), anderen Massenmorden, Zwangsarbeit, Kriegsverbrechen und Kriegsfolgen eingerechnet.
Nachlese: Karl-Heinz Rauscher: „Steyr im Nationalsozialismus. Politische, militärische und soziale Strukturen“ (Gnas 2003); Festschrift zum 50. Jahrestag der Befreiung Österreichs. 40 Jahre Staatsvertrag. Vorwärts, Nummer 2, 28. Jahrgang, April 1995; Waltraud Neuhauser, Georg Neuhauser: „Fluchtspuren. Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt“ (Grünbach 1998)
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