Interview: "Corona-Krise verursacht bei Schülern Zukunftsängste"
MOSTVIERTEL. Seit wenigen Tagen ist es fix: die Schüler aller Schulstufen werden die kommenden Wochen im Homeschooling verbringen. Welche Auswirkungen hat die Corona-Pandemie auf Kinder und Jugendliche? Tips sprach mit Marion Schneider, Schulsozialarbeiterin und Fachliche Leiterin des NÖ Instituts ko.m.m.
Tips: Frau Schneider, was genau darf man sich unter Schulsozialarbeit vorstellen?
Marion Schneider: Schulsozialarbeit ist ein niederschwelliges Beratungsangebot direkt an der Schule. Es ist für alle ratsuchenden Schulpartner gut und einfach zu erreichen. Hauptzielgruppe sind die Schülerinnen und Schüler der jeweiligen Schule, aber auch den Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und sonstigen Bezugspersonen steht das Angebot offen. Themenmäßig gibt es in der Beratung keine Einschränkungen.
Tips: Wann wird Schulsozialarbeit hinzugezogen?
Schneider: Das Institut ko.m.m. bietet Schulsozialarbeit in allen Schultypen an. Jeder Schüler entscheidet freiwillig, ob er das Angebot wahrnehmen möchte. Das heißt, die meisten kommen aus eigener Motivation mit den unterschiedlichen Themen in die Beratung. Diese freiwillige Inanspruchnahme wird von uns und den Schulen auch sehr unterstützt. Darüber hinaus wird die Schulsozialarbeit in manchen Fällen von Lehrern hinzugezogen, wenn es Probleme gibt, die die ganze Klasse betreffen, wie etwa Klassenkonflikte bis hin zu Mobbing, oder aber, wenn sie eine Problemlage eines Schülers sehen, die der Unterstützung durch Schulsozialarbeit bedarf, der Schüler selbst aber noch nicht daran gedacht hat, in die Beratung zu kommen. Aber auch in diesem Fall, wird die Freiwilligkeit abgeklärt.
Tips: Schulsozialarbeit wird ja in verschiedenen Schultypen angeboten. Welche Unterschiede gibt es hier bei den Themen/Problemen?
Schneider: Das Institut ko.m.m. bietet Schulsozialarbeit in allen Schultypen an, von der VS bis zum Gymnasium, von der Mittelschule, Polytechnische Schule bis zur ASO und auch in den Landesberufsschulen im Weinviertel. Die Themen unterscheiden sich hauptsächlich im Alter der Schüler. In Mittelschule, Poly, Gymnasium und ASO kommen pubertäre Krisen dazu, die in der VS naturgemäß noch nicht in dem Ausmaß vorhanden sind, ebenso wie Beratungsbereiche, die eventuell Unabhängigkeit in Finanzen und Wohnen beinhalten. Themen wie Familienkonflikte bis zu schweren familiären Krisen, Todesfälle, Trauer, Mobbing, Klassenkonflikte, Probleme beim Lernen, etc. sind in allen Schultypen vertreten.
Tips: Welche Themen, Fragen oder Probleme stehen aufgrund von Corona derzeit im Vordergrund?
Schneider: Wir merken in diesem Schuljahr einen deutlichen Anstieg an Beratungsgesprächen sowie eine signifikante Häufung an komplexen, krisenhaften Themen in den Beratungen bereits zu Schulanfang. Ängste, persönliche Krisen bis hin zu Suizidalität und psychiatrische Auffälligkeiten sind heuer stark präsent. Wir führen das auf die deutliche Unsicherheit in der Gesellschaft im Hinblick auf die Zukunft durch die Corona-Krise zurück oder auch auf die räumliche Enge, in der Familien während der Lockdowns quasi gefangen waren und wieder sind. Das ließ im Frühjahr familiäre Krisen wirklich hochkochen, die sonst durch die Möglichkeit mal raus gehen zu können oder sich diverse Hilfsangebote holen zu können, entschärft wurden.
Tips: Wie hat sich die Corona-Pandemie auf den Ablauf der Schulsozialarbeit ausgewirkt?
Schneider: Während der Schulschließungen haben wir von zu Hause aus gearbeitet. Wir waren in engem Kontakt mit den Schulleitern, haben Info-Mails an Schüler, Lehrer und Eltern verschickt und waren für unsere Zielgruppen täglich telefonisch erreichbar. Auch Video-Beratungen konnten wir anbieten. Als die Schulen ab circa Mitte Mai wieder aufmachten, nahmen auch wir unsere Tätigkeit in vollem Umfang in den Schulen wieder auf.
Tips: Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Schüler ein?
Schneider: Ich glaube, dass die Pandemie diffuse Ängste, vor allem Zukunftsängste, in den Schülern auslöst. Niemand kann sagen, wie das Schuljahr verlaufen wird, wie Abschlüsse erreicht werden können, die aber notwendig sind für eine weiterführende Schule oder für eine Berufsausbildung essentiell sind. Des Weiteren befinden sich die Schüler in einer wichtigen Entwicklungsphase, die man nicht eben so mal ein Jahr auf Eis legen kann, bis die Krise vorüber ist. Das alles löst große Unsicherheiten und Krisen im Zusammenleben aus, deren genaue Auswirkungen wir erst in ein paar Jahren im gesamten Ausmaß schmerzlich spüren werden. Und da rede ich noch gar nicht von Bildungsdefiziten, die man ja bereits jetzt schon klar sieht.
Tips: Es ist wieder Homeschooling angesagt. Wie stehen Sie zu der Beendigung des Präsenzunterrichtes für alle Schulstufen?
Schneider: Aus epidemiologischer Sicht scheinen flächendeckende Schulschließungen eine gute Möglichkeit zu sein, das Infektionsgeschehen einzudämmen. Ob Kinder tatsächlich so einen großen Einfluss auf die Weiterverbreitung von Covid-19 haben, wird fachlich kontrovers diskutiert. Wir arbeiten in zahlreichen Schulen in ganz Niederösterreich und sahen bisher, dass Lehrer und Kinder gut mit den zuvor gültigen Maßnahmen umgehen konnten. Als Sozialarbeiterin bin ich daher klar dafür, die Schulen offen zu halten. Es findet dort nicht nur wichtige Bildungsarbeit statt, sondern die Schule bietet Kindern die Möglichkeit einer Tagesstruktur, des sozialen Lernens und einer Chancengleichheit, die andernfalls benachteiligten Familien verwehrt bleibt. Aus dem Frühjahr wissen wir, dass sich da immense Bildungslücken aufgetan haben und sich auch soziale Schwierigkeiten massiv verstärkt haben. Auf längere Sicht also können Schulschließungen nicht immer das Mittel der Wahl sein, wenn man daraus resultierende gesellschaftliche Schwierigkeiten, die erhebliche Kosten verursachen werden, verhindern möchte.
Tips: Wie schwierig ist es für Schulsozialarbeiter, Schüler im Homeschooling zu erreichen?
Schneider: Wir kennen es, dass Schüler den schulischen und den privaten Bereich gern strikt trennen. Daher konnten sie sich im Frühjahr, als sie zu Hause waren, nicht so gut auf Beratungen einlassen, da sich ja auch Eltern oder Geschwister in der Wohnung aufhielten und das nicht für die notwendige Vertraulichkeit in der Beratung förderlich war. Ein Teil der Schüler konnte im Homeschooling durch die Schule gar nicht mehr erreicht werden. Zum Teil konnte dann eine Möglichkeit gefunden werden, dass wir Schulsozialarbeiter den Kontakt wieder herstellten, zum Teil sah man die Schüler erst nach der Schulöffnung wieder.
Tips: Wie viele Schulen werden im Bezirk durch das Institut ko.m.m. derzeit betreut?
Schneider: Im Bezirk betreuen wir vier Volksschulen, drei Mittelschulen, eine polytechnische Schule, eine ASO und ein Gymnasium. Dieses finanziert die Betreuung durch Schulsozialarbeit aber selbst, da es als Bundesschule keine Förderungen des Landes für Schulsozialarbeit erhält. Das ist manchmal eine Herausforderung für den Schulleiter dort.
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