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Leserbrief: "Die Vergangenheit holt uns immer wieder unverhofft ein"

Michaela Aichinger, 24.06.2024 10:43

AMSTETTEN. Der Neuhofner Historiker Gerhard Ziskovsky hat der Tips-Redaktion einen Leserbrief zum Thema „Die Vergangenheit holt uns immer wieder unverhofft ein - Assoziationen zu einem gefundenen Kopf“ übermittelt.

 (Foto: Tips GmbH)
(Foto: Tips GmbH)

„Erst vor Kurzem versuchte ich in die Diskussion um den Erhalt des Sparkassenbrunnens durch ein Plädoyer für dieses Stadtdenkmal einzugreifen. Leider umsonst, die drohende Enthistorisierung der Stadt nahm ihren bereits lange schon begonnenen Verlauf, wie das Verschwinden von wichtigen historischen Gebäuden beweist.“

„Mahnung an das menschenverachtende Unrechtsregime“

„Nun taucht völlig überraschend aus den Tiefen des Hauptlatzbodens mitten im Bombenkrater der Kopf des NS-Menschen auf, dessen ideologisch-politische Funktion wesentlichen Einfluss auf sämtliche Inszenierungsrituale während der NS-Herrschaft hatte. Das dort gestandene Ensemble, der Kilianbrunnen mit NS-Figur und symbolisch der darauf Bezug nehmende Gedenkbrunnen (Sparkassenbrunnen) meldeten sich zurück. So etwas wie Schadenfreude angesichts des aktuellen Zufallsfunds im Rahmen der Bauarbeiten genau an der Stelle des Hauptplatzes, an dem der heute entfernte Brunnen stand, wäre fehl am Platz, aber das ausgegrabene NS-Relikt sollte doch als Mahnung an das menschenverachtende Unrechtsregime verstanden werden, das für viele in einer Katastrophe endete.“

„Raum für historisches Gedächtnis einer Stadt“

„Materiell gesehen lässt sich diese Mahnung ausweiten, wenn es um die Präsentation derartiger historischer Exponate geht: Um dem historischen Gedächtnis einer Stadt eine Möglichkeit der Realisierung seiner Inhalte zu bieten, wäre doch ein Präsentationraum zu errichten, das schon lange überlegte Stadtmuseum (Schloss Edla wurde schon einmal vorgeschlagen, war bereits einmal „Heimatmuseum“ in der NS-Zeit, also ein sich anbietender Bezugsrahmen), außerdem Hinweistafeln, Stolpersteine als Impulsstationen, wie dies in vielen Städten bereits selbstverständlich ist. Zwei Hauptexponate würden sich sofort anbieten: der „Eiserne Wehrmann“ (1915-1918) und der NS-Kopf des SA-Mannes auf dem Kilianbrunnen (1939-1945 und wieder 2024-folgende Jahre).“

„Jede Generation hat andere Fragen an die Geschichte“

„Wie mit solchen Ereignissen umgegangen wird, liegt immer in der Deutungshoheit der jeweiligen politischen Führung der Stadtgemeinde. Beiden wurde das traurige Schicksal zugewiesen, im Stadtarchiv zu verstauben. Da jede Geschichtsaufarbeitung immer im Kontext der Zeit steht, hat jede Generation andere Fragen an die Geschichte. Wenn schon der Stadtbrunnen, der 1980 die vorangegangene Geschichte des seit 1664 bestehenden und 1945 zerstörten Kilianbrunnens symbolisch wieder aufnahm und weiterführte, und die 1998 anlässlich 100 Jahre Stadterhebung installierte Wolfsskulptur ihre historische Ortsgebundenheit nicht aufrechterhalten konnten, so wäre es nun wirklich angebracht, die Exponate in einem der Stadt entsprechenden historischen Kontext zu präsentieren, damit sie eine breite Öffentlichkeit im Gedächtnis behält, und die Bedeutung dieses Ortes nicht dem Vergessen anheimfällt.“

„Die Geschichte holt uns unverhofft immer wieder ein“

„Das „Einfrieren der Geschichte“, von dem der Philosoph und Literat Jean Amery sprach, funktioniert nicht. Irgendwann gibt’s ein „Auftauen“ des „Eingefrorenen“, mit dem oft schwer umzugehen ist. Die Vergangenheit, die nicht vergehen will, macht meistens einen Strich durch die Rechnung. Die Geschichte holt uns unverhofft (wenn auch für manche noch immer ungewollt) immer wieder ein. Wenn plötzlich der Kopf, eines der bedeutendsten Symbole der NS-Stadtgeschichte, gerade an dem Ort auftaucht, an dem jedes Gedenken aus Nützlichkeits- und Schöngestaltungsgründen verschwinden sollte, so ruft dieses Zufallsgeschehen meistens nach einer „Erklärung“. War es ein anregender Streich, gar ein „Racheakt“ der Geschichte, die sich übergangen fühlte, weil ihr jedes historische Gedenken an diesem Ort verweigert wurde? Handelt es sich doch um einen Ort, der im historischen Kontext zu den bedeutendsten des Stadtgebiets gehört, wo der Kilianbrunnen, ein Jahrhunderte altes Symbol der Stadtwerdung, durch den ihm aufgesetzten NS-Menschen zum Podest degradiert wurde. Wenn er auch am 8. Mai 1945 zerstört wurde, so wurde er durch ein 35 Jahre später errichtetes Mahnmal, den Sparkassenbrunnen, wiederbelebt.“

„Grabungsarbeiten auf heiklem historischen Terrain“

„Den aktuellen „Schicksalsschlag“, der das Zentrum der Stadt Mitte Juni 2024 traf, hatten die Hauptplatzerneuerer selbst provoziert, weil jeder wissen musste, dass die Grabungsarbeiten auf heiklem historischen Terrain stattfanden, nachdem bis heute nicht geklärt ist, was mit den Überresten des doch massiven Kilianbrunnens und des auf ihm in Überlebensgröße postierten „SA-Mannes“ nach dem zerstörenden Luftangriff geschehen ist. Der sensationelle Kopffund im Bombenkrater, wenn auch ohne zughörigen Körper, in der Mitte des damaligen „Adolf Hitler-Platzes“, seit Jahrhunderten Kommunikations- und Agitationszentrum, wo regelmäßig die Einwohner zusammenkamen und sich das Hauptgeschehen zentrierte, erinnert mit seiner Symbolkraft an das Zwangsinstrument der städtischen NS-„Volksgemeinschaft“. Hinter diesem Symbol verbirgt sich der Auftrag, einen Wandel des Menschenbilds herbeizuführen, den Menschen nach ideologisch-politischen Kriterien neu zu formen, um ihn zum gefügigen Untertanen zu degradieren.“

„Ideologie vor der Haustüre“

„Wenn auch die NS-Ideologie von der „Züchtung“ des „Neuen Menschen“ ausging, erfüllten diesen Anspruch vorerst auch die „Heroen“ der „Kampfzeit“, die das „Edle“ des „Ariers“ bereits bewiesen hatten. Sie wurden zu Vorbildern umfunktioniert, zu denen man aufzuschauen hatte. Entsprechend den ideologisch-politischen Ansprüchen der totalitären Herrschaft schufen die Amstettner Nationalsozialisten symbolisch in ihrer Mitte diesen „Neuen Menschen“ zum Anschauen, im Sinn der „Ideologie vor der Haustüre“ Der Anlass der Aufstellung dieser Figur war geschickt gewählt: Die „feierliche“ Enthüllung fand anlässlich der Präsentation der ersten „Bilanz“ der NS-Herrschaft am „1. Kreisparteitag“ am 10. und 11. Juni 1939 durch „Gauleiter“ Hugo Jury auf dem „Adolf Hitler-Platz“ statt. Auf diese Weise wurde ein sichtbarer Bezugspunkt für die neue „Volksgemeinschaft“ mitten auf dem Hauptplatz gesetzt, der zugleich „Denkmal“ für die „heroische“ Zeit der „Mannesbewährung“ sowohl im „Kampf der „Bewegung“ um den „Sieg“, sprich „Anschluss“, als auch gleichzeitig zukunftweisendes Programm war.“

„Der Neue Mensch“

„Der „Neue Mensch“ sollte die Qualitäten des „Alten Kämpfers“ der SA (daher auch „SA-Brunnen) haben, der im Kampf um die Machtübernahme siegreich war. Die Nationalsozialisten hatten den gleichsam dekonstruierten Kilianbrunnen zu einem Wahrzeichen der Stadt umfunktioniert. Der „Neue Mensch“ in eleganter Uniform blickte bereits damals verheißungsvoll nach Osten, dorthin, wo der NS-Größenwahn ungefähr zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, den Vernichtungskrieg (als Überfall ohne Kriegserklärung) gegen die Sowjetunion vom Zaun brach. Für dieses Denkmal des „Neuen Menschen“ sind vier authentische Bezeichnungen erhalten: „Der Vorkämpfer“, „Der Kämpfer“, „Der unbekannte Kämpfer“, „Der SA-Mann“ (besonders im Volksmund). Es wurden aber noch weitere Menschendarstellungen nach NS-Vorbildern vom damaligen Bürgermeister Wolfgang Mitterdorfer an einen einheimischen Künstler in der Stadt in Auftrag gegeben. Die SA-Figur wurde wie zwei andere Skulpturen in der Stadt („Meister und Lehrling“ vor der Gewerbeschule und „Arbeiter der Stirn und der Faust“ vor dem neuerbauten „Städtischen Amtshaus“) von Kunibert Zinner aus St. Peter i.d.Au, einem ehemals „illegalen“ Parteimitglied und „Leiter der Reichskammer der bildenden Künste für den Gau Niederdonau“, angefertigt.“

„Sowjetrussischer Fliegerangriff“

„Am 8. Mai wurde um die Mittagszeit der sowjetrussische Fliegerangriff auf Amstetten, übrigens der letzte im „Großdeutschen Reich“, von über die Ennslinie in die amerikanische Zone flüchtenden SS-Angehörigen provoziert, die mit einer auf einem Lastwagen stationierten Vierlingsflak die russischen Aufklärer, die nach den Amerikanern Ausschau hielten (ursprünglich war ein Treffen auf dem Hauptplatz geplant) vom Krautberg aus beschossen wurden. Die prompte Reaktion war der Angriff sowjetrussischer Tiefflieger mit 29 Toten auf das Stadtzentrum, der auffallend gezielte Bombenabwurf auf den „Neuen Menschen“, sowohl auf die Skulptur auf dem Hauptplatz als auch auf die Figurengruppe vor dem neu errichteten Amtshaus im Graben. Die Bombenwerfer wussten über die Verantwortlichen der Katastrophe Bescheid. Nur die Skulptur vor der gewerblichen Fortbildungsschule überlebte, wenn auch beschädigt durch einen schweren Luftangriff am 16. März 1945.“

„Symbol der Orientierung“

Während nach dem neuesten archäologischen Forschungsstand die Reste sowohl des Kilianbrunnens als auch der NS-Figur auf ihm für immer verschwunden bleiben werden (nach der Erneuerung des Hauptplatzes), so befindet sich die dritte Skulptur in Privatbesitz am Hößgang gegenüber Grein. Mit Dauer des Kriegs musste die lokale Propaganda unter dem Druck zunehmender Rückschläge und Belastungen auf das Mittel der propagandistischen Überhöhung der Zeit des Kampfs vor dem März 1938 zurückgreifen, um den „Durchhaltewillen“ und die Opferbereitschaft der Bevölkerung für den „Endsieg“ aufrechtzuerhalten und zunehmende Resignation und sogar Verweigerung einzudämmen. In diesem Zusammenhang erlebte das für alle sichtbare Symbol der „Orientierung“ eine nochmalige letzte überlebenswichtige Aufwertung. Zuletzt aber wurde sein bisheriger Symbolcharakter ins Gegenteil verkehrt, als die Bombe den Brunnen mitsamt dem „Neuen Menschen“ in die Luft jagte und somit das endgültige Ende aufzeigte.“

„Gemeinschaftswille“

Die Schaffung dieses „Neuen Menschen“ war Teil der nationalsozialistischen Idee der allumfassenden „Erneuerung“. Die NS-Ideologie war die Sozialisationsgrundlage für den „Neuen Menschen“. Er wurde vorerst unter Zwang sozialisiert, d. h. in das NS-System eingeordnet, vor allem in das umfassende Netz der Formationen der Partei, wobei das ordnungspolitische Instrumentarium der „Volksgemeinschaft“ zur Abstützung des Herrschaftssystems wirksam wurde. Das Endziel der Entindividualisierung im verordneten „Massen“erlebnis sollte durch Aufgehen im „Volkskörper“, in dem der Schein von „Harmonie“ und „Gleichheit“ tonangebend war, unter Aufgabe jedes persönlichen Freiheitsanspruchs erreicht werden. Der suggerierte „Gemeinschaftswille“ beherrschte den Alltag, dem der entsprechende Rahmen durch die Stadtplanung geschaffen wurde, wo er sich widerspiegeln konnte. Dazu gehörten die „Gemeinschaftshäuser der NSDAP“, besonders ausgestattete Plätze, Feier- und Festräume mit künstlerischer Ausschmückung als Bühne. Das Gewicht lag auf dem funktionierenden „Stadtorganismus“, der ideologisch bestimmten „Stadtplanungskunst“, der Einheit von Kultur (vor allem Bildende Kunst im öffentlichen Raum, aber auch Musik, Theater, Architektur) und Politik, mit ihrer Realisierung in der kleinsten Einheit, in der jeweiligen Ortsgemeinde bzw. „Ortsgruppe der NSDAP“ (Stadtgemeinschaft), der unterste Bereich der permanenten Kontrolle und Überwachung in einem Systems des Ineinandergreifens von Organisationen (der Partei) und Institutionen (des Staats) unter dem „Schutz“ der zahlreichen Polizeiinstanzen. Jedes neue Stadtviertel, jede neue städtische Kernzone war einem ideologischen Teilaspekt zugeordnet. Es handelte sich um gebaute Ideologie.“

„Modellstadt im Kleinstadtformat“

Wenn es nach den Vorstellungen, den Plänen des NS-Bürgermeisters Wolfgang Mitterdorfer gegangen wäre, wäre die „Neugestaltungsstadt“ als „Führerstadt“ und Modellstadt im Kleinstadtformat im „Großdeutschen Reich“ präsentiert worden. Die zielgerichtet durchgeführte „Gleichschaltung“ der Gesellschaft, die die systematische Ausgrenzung und Ausschaltung von Einzelnen und ganzer Gruppen aus rassenideologischen, politischen und sonstigen „sozialen“ Gründen („Asoziale“), zum Normalfall machte, sollte zum „Neuen Menschen“ führen. Die „Neuwerdung“ sollte durch permanente „Umerziehung“ vor allem der Jugend im schulischen, Sport- („körperliche Ertüchtigung“) und Formationsbereich (besonders HJ, BDM und RAD) erfolgen. Es wurde im frühesten Kindheitsalter mit der Ausrichtung begonnen, der NS-Staat erhob den Alleinvertretungsanspruch. Zwecks Schaffung des „Neuen Menschen“ sollte das Leben des Einzelnen „von der Wiege bis zur Bahre“ organisiert werden. Vom „rassenbiologischen“ Standpunkt aus war der „Neue Mensch“ das Ergebnis der „Züchtung“ bzw. „Aufnordung“ der Mitglieder der nun „reinrassigen Volksgemeinschaft“. Dieses geplante Hervorbringen eines „Neuen Menschen“, des „Ariers“ als „Herrenmenschen“, hatte als Ziel ein „ideales“ äußeres Erscheinungsbild, eine Mischung von hellenistischem Körperideal und martialisch nordischer Heldenfigur, wodurch Macht und Überlegenheit visualisiert werden sollte.“

„Härte, Disziplin und Kampfgeist“

Nur den „Neuen Menschen“ zeichnete Härte, Disziplin und Kampfgeist, Leistungs- und Opferbereitschaft aus, er war aber auch für große Kulturschöpfungen aus „arischem“ Geist ausersehen, für politische Loyalität und Identifikation mit der „Volksgemeinschaft“. Der „fremdrassige Untermensch“ wurde als parasitär, feige, hässlich, hinterhältig, auch als Ungeziefer eingestuft. Nach Vorstellung des Künstlers sollten diese Attribute aus der NS-Figur auf dem Kilianbrunnen als Leitmotiv erkennbar sein. Nach dem Mythos von „Blut und Rasse“ war die „Volksgemeinschaft“ der „Neuen Menschen“ eine „Blutgemeinschaft“ mit der Verpflichtung zur „Blutreinheit“ durch einen „ständigen Prozess der „Reinigung“ und Hygiene“. Aufgrund eugenischer „Erkenntnisse“ musste Schwaches und Krankes, als „lebensunwert“ Eingestuftes, „ausgemerzt“(„Euthanasie“programm) werden, um den „Volkskörper“ vor „Zersetzung“ zu schützen Diese schaurige Vision einer „neuen“ Gesellschaft schwebte über allen, symbolisiert durch den „Neuen Menschen“, dessen Kopf nun gefunden wurde.“

Meinungen in Leserbriefen müssen sich nicht mit denen der Redaktion decken. Wir behalten uns vor, Briefe aus Platzgründen zu kürzen.

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