Leserbrief: Meine zweite Chance – ein Dank an das SOS-Kinderdorf
ALTMÜNSTER. Evelyn Laßnig hat Tips diesen Leserbrief zum SOS-Kinderdorf Altmünster geschickt.
Ich bin im SOS-Kinderdorf Altmünster aufgewachsen und hatte eine liebevolle Kinderdorfmutter, die mich stets unterstützt und motiviert hat. Ich war sieben Jahre alt, als ich 1989 ins Kinderdorf kam, und blieb dort bis 2001. Dort, und auch einige Monate zuvor im Kinderdorf Moosburg, erlebte ich eine unbeschwerte Kindheit voller Wärme, Gemeinschaft und Förderung.
Dank dieser stabilen Basis konnte ich maturieren, beruflich Fuß fassen und schließlich meinen Traum verwirklichen: Heute bin ich Lehrerin und unterrichte mit großer Freude Jugendliche und gebe weiter, was ich selbst erfahren durfte – Vertrauen, Mut und Zuversicht.
Ohne das SOS-Kinderdorf und meine Kinderdorfmutter hätte ich diesen Weg wohl nicht geschafft. Bis heute verbindet uns ein sehr enger Kontakt. Sie ist für mich und meine Kinder eine liebevolle Großmutter, immer unterstützend und präsent.
Das ist meine Geschichte – und wahrscheinlich die vieler anderer Kinderdorfkinder, die durch diese Einrichtung eine zweite Chance bekommen haben.
Umso mehr schmerzen mich die aktuellen Berichte über Gewalt und Missbrauch in manchen Kinderdörfern und zu sehen, wie sehr der Ruf der Kinderdörfer insgesamt darunter leidet – gerade weil ich selbst eine so schöne und behütete Kindheit dort erleben durfte. Es fühlt sich an, als würde etwas, das für mich immer ein Ort von Liebe und Geborgenheit war, plötzlich in ein falsches Licht gerückt. Ich empfinde tiefes Mitgefühl mit all jenen, die Schlimmes erfahren mussten, und wünsche ihnen aufrichtig Heilung, Aufarbeitung und eine Zukunft, die wieder Vertrauen zulässt.
Trotz allem bin ich überzeugt: Es wäre falsch, die gesamte Institution zu verurteilen. Es ist, als hätte man eine Schüssel voller frischer Äpfel, in der einer zu faulen beginnt – wirft man deshalb alle weg und schwört Äpfeln für immer ab?
Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman beschrieb einmal das Phänomen des „negativity bias“ – also unsere menschliche Neigung, Negatives stärker wahrzunehmen als Positives. Ein einziger Skandal kann in Sekunden zerstören, was tausende Menschen über Jahrzehnte aufgebaut haben. Medien berichten nun einmal lieber über das, was schockiert – und das verzerrt das Gesamtbild.
Ich finde: Kritik ist wichtig, Aufarbeitung notwendig – aber Pauschalverurteilungen helfen niemandem. Nach wie vor gibt es tausende Kinder, die im SOS-Kinderdorf Zuwendung erfahren, Bildungschancen erhalten und ein Zuhause finden, das sie sonst nie gehabt hätten.
Ich bin dem SOS-Kinderdorf, meiner Kinderdorfmutter, den vielen engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zutiefst dankbar. Sie alle haben mich ein Stück meines Lebens begleitet – und aus einem traumatisierten Kind einen starken, zufriedenen Menschen gemacht. Danke!
Tips berichtete bereits über die aktuelle Situation: https://www.tips.at/nachrichten/ooe/wirtschaft-politik/703015-landesrat-winkler-beauftragt-sonderpruefung-zu-sos-kinderdorf
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