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Birgit Gerstorfer: "Bei den Pflegebedingungen ist es schon eins vor zwölf“

Jürgen Affenzeller, 29.06.2021 12:26

LINZ/OÖ. Über die angespannte Situation in der Pflege, die Erkenntnisse aus dem Beispiel MAN und die persönlichen Ziele für die Landtagswahlen am 26. September sprach Tips mit der SPÖ-Landesvorsitzenden und Landesrätin Birgit Gerstorfer.

SPÖ-Chefin Birgit Gerstorfer: „Die Menschen wollen arbeiten.“ (Foto: Sebastian Philipp)
SPÖ-Chefin Birgit Gerstorfer: „Die Menschen wollen arbeiten.“ (Foto: Sebastian Philipp)

von ALEXANDRA MITTERMAYR und JÜRGEN AFFENZELLER

Tips: Bei den erfolgten Corona-Unterstützungsmöglichkeiten sieht man, dass es diese für Betriebe in recht detaillierter Art und Weise gab, für die Arbeitnehmer sehr viel weniger. Wie muss jetzt etwa ein Arbeitslosengeld ausgestaltet werden, mit all den Erfahrungen, die man machte und noch immer macht?

Birgit Gerstorfer: Wir können uns grundsätzlich glücklich schätzen, dass wir einen Sozialstaat haben und dass er auch funktioniert hat in der Pandemie. In der Frage der sozialen Leistungen ist es sicher so, dass eine 55-prozentige Netto-Ersatzrate in der Arbeitslosigkeit für viele, vor allem, wenn sie länger arbeitslos werden, ein riesengroßes Thema wird. Man muss sich nur selbst vorstellen, nur 55 Prozent zu haben von dem, was man vorher verdient hat, dann weiß man, wie schnell es eng und existenzbedrohend wird. Unsere Forderung ist klar: 70 Prozent Netto-Ersatzrate in der Arbeitslosigkeit. Es ist auch ein Konjunktur-Belebungsprogramm. Diese Zielgruppe kann nichts aufs Sparbuch legen, sondern die gibt das 1:1 aus, das geht alles in die Wirtschaft, das belebt Arbeitsmarkt und Wirtschaft.

Tips: Wenn ich Ihr Modell überlege, könnte ich mit einer ja auch erlaubten geringfügigen Beschäftigung zusätzlich doch für viele ein Modell schaffen, wo man sich „ausrasten“ kann?

Gerstorfer: Nein. Ich habe so viele Menschen in der Arbeitslosigkeit kennengelernt, eine fünfstellige Zahl garantiert. Einzelne waren schon dabei, die möglicherweise so ein Interesse hatten, aber die Menschen wollen arbeiten, sie wollen dazugehören, etwas verdienen, sie wollen sich nicht jeden Monat einfach nur rüber wurschteln.

Tips: In Sachen Pflege-Bedingungen war durch Corona vor wenigen Monaten die Unsicherheit sehr groß. Was ist abgesehen von einem Corona-Bonus bisher passiert, was in eine bessere Richtung führen könnte?

Gerstorfer: Es ist quasi schon eins vor zwölf in diesem Bereich und FPÖ und ÖVP sind hartnäckig dabei zu sagen, wir lassen alles so wie es ist in den Entlohnungs- und Arbeitsbedingungen. Da rede ich auch vom Pflegepersonal-Schlüssel. Der ist 25 Jahre alt. Wenn wir den Personalbedarf in der Pflege in der Zukunft decken wollen, müssen wir mit den Gehältern und mit dem Pflegepersonal-Schlüssel hinauf.

Tips: Ein Vorschlag von Ihnen ist es ja, Pflegekräfte und Familienangehörige auch anzustellen. Die ÖVP kritisiert, dass das im Burgenland, wo es diese Maßnahme schon gibt, kein Erfolg sei?

Gerstorfer: Es hat sich dort sehr wohl als erfolgreich erwiesen. Die Menschen werden dort angestellt und im geringfügigen Maße auch geschult. Man braucht ein gewisses Handwerkszeug. Solche banalen Dinge werden dort gelehrt, etwa wie man sich selbst schützt mit dem vielen Heben und Tragen. Diese minimalistische Ausbildung werden auch wir in Form des „Alltagsbegleiters“ im Juli hoffentlich im Oö. Landtag beschließen.

Tips: Auf welche Personengruppe wird das zum Start umgelegt?

Gerstorfer: Das Konzept dazu ist fertig. Wir werden es vorerst nur für Kinder mit Beeinträchtigungen pilotieren, das umfasst zum Start rund 30 Personen, und dies wissenschaftlich begleiten und evaluieren. Wenn das Ganze erfolgreich ist, dann wollen wir es auch ausdehnen auf Senioren.

Tips: Wie beurteilen Sie den geplanten „Pflege-Daheim-Bonus“, wo 1.500 Euro einmalig allen pflegenden Angehörigen bezahlt werden?

Gerstorfer: Ich nenne das eine Almosenwirtschaft. Die Maßnahme kostet 300 bis 400 Millionen Euro im Jahr in Österreich, 60 Millionen in Oberösterreich. Man muss sich die Frage stellen, was einem 1.500 Euro helfen, wenn man selbst krank ist und man einen Kurzzeit-Pflegeplatz oder Tageszentrum-Platz braucht einfach keinen bekommt. Wenn ich diese 60 Millionen Euro nehme und in Kurzzeit-Pflegebetten investiere, in Tageszentren und sonstige Unterstützungsleitungen für pflegende Angehörige, dann haben diese wirklich etwas davon.

Tips: Beispiel drohende MAN-Schließung in Steyr: Wie beurteilt die SPÖ diesen zweiten Kompromiss, den es am Ende noch gab, damit es dort weitergeht?

Gerstorfer: Das Beispiel MAN zeigt deutlich, dass es große Abhängigkeitsverhältnisse gibt, wenn Großkonzerne ihre Standorte in der Region haben. Man war in dem Fall stark von den Entscheidungsträgern in München abhängig. Das ist auch keine österreichische Entscheidung. MAN zeigt aber, wie wichtig Betriebsräte und innerbetriebliche Demokratie sind. Die Rechte konnten in der Großgruppe in der Solidarität durchgesetzt werden, sonst wäre das Ganze ohne mit der Wimper zu zucken über die Bühne gegangen. Die Kraft der Betriebsräte hat dort vieles zumindest einmal verbessert. Und es sind die sozialdemokratischen Betriebsräte, die dort die Rechte der Arbeitnehmer schützen.

Tips: Was wollen Sie in der nächsten Periode unbedingt schaffen?

Gerstorfer: Ich will unbedingt, dass die Frauen vor Gewalt geschützt sind. Eine Gesellschaft muss sich dazu bekennen, dass Gewalt keinen Platz haben darf. Die häufigste Gewalt passiert daheim, das muss ein no go sein. Es muss eine Unmöglichkeit sein, dass ich meine Frau schlage. Jede fünfte Frau ist von Gewalt betroffen, das ist keine Kleinigkeit. Ich verstehe ÖVP und FPÖ nicht, denn seit 2018 gibt es einen Antrag im Landtag für Frauenhäuser und Übergangswohnungen, und sie rühren sich einfach nicht.

Tips: Warum sollen Frauen die SPÖ wählen?

Gerstorfer: Wenn eine Frauenlandesrätin es zulässt, dass ich plötzlich Nachmittagsgebühren in Kindergärten wiedereinführe, ist dies nur die Spitze des Eisbergs in Oberösterreich. Es werden so viele Dinge ausgelassen, die Frauen massiv beschäftigen, etwa, wie man klassische Frauenberufe in Relation zu klassischen Männerberufen aufwerten kann. Vorrangig brauchen wir aber einen Vollausbau in der Kinderbetreuung und eine Verbesserung der Einkommenssituation, nur dann können wir realisieren, dass die jungen Frauengenerationen später vielleicht annähernd an die Männerpensionen herankommen.

Tips: Ihr konkretes Ziel für die Wahl am 26. September?

Gerstorfer: Ich habe das Wahlziel „Zwei plus Zwei“, das heißt, ich will Zweite werden im Land und ich will einen zweiten Regierungssitz für die SPÖ.


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