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Immer mehr Jugendliche wegen Kinderpornografie angezeigt – Verein Neustart: „Jugendliche verstehen oft nicht, was strafbar ist“

Tips Logo Steiner Christoph, 03.06.2025 17:45

LINZ. Social Media hat das Sozialverhalten vieler Jugendlicher grundlegend verändert. Die virtuelle Interaktion führt aber nicht selten dazu, dass sich Jugendliche plötzlich einem Richter gegenüber sehen – wegen bildlicher sexualbezogener Darstellung Minderjähriger. Mit entsprechender Strafandrohung. In solchen Fällen tritt der Verein Neustart mit einem eigenen Programm in der Bewährungshilfe auf den Plan – ein Bericht über Erfahrungen aus der Praxis.

  1 / 2   Auf sozialen Medien wie Snapchat werden von Jugendlichen oft unbedacht intime Bilder weiterverbreitet. (Foto: guteksk7/stock.adobe.com)

Die Anzahl der angezeigten Straftaten wegen der Verbreitung von Kinderpornografie nach dem kürzlich verschärften Paragraf 207a des Strafgesetzbuches hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Waren es 2012 noch 584 Tatverdächtige, so waren es im Jahr 2023 bereits 2.245. Was aber nicht unbedingt daran liegt, dass man mehr „klassische“ Pädophile ausforschen konnte.

Anstieg bei angezeigten Jugendlichen

Denn vor allem bei jugendlichen Tatverdächtigen ist ein massiver Anstieg zu beobachten: Von 42 Tatverdächtigen im Jahr 2012 stieg die Zahl auf 665 im Jahr 2021. Rechnet man die 408 Strafunmündigen (unter 14 Jahre) dazu, dann waren die Hälfte der insgesamt ermittelten Tatverdächtigen selbst minderjährig (1.073). Tendenz steigend. Was für die Jugendlichen massive Strafandrohungen zur Folge hat – und den wenigsten bewusst ist. Höchststrafe wären je nach Delikt mehrjährige Haftstrafen.

14-Jähriger in Linz vor Gericht: Diversionelle Erledigung

So musste sich in Linz erst kürzlich ein 14-Jähriger vor Gericht verantworten – er hatte intime Fotos einer 16-Jährigen in Snapchat-Gruppen verbreitet. Wozu er sich in seinem Prozess auf Drängen der Richterin auch bekannte, um 13- und 15-Jährige geladene Zeugen nicht aussagen lassen zu müssen. So kam er mit einer Diversion und Einstellung des Verfahrens auf eine Probezeit von einem Jahr davon. Im Rahmen der Bewährungshilfe wurde ihm auch eine Schulung im Umgang mit sozialen Medien angeordnet.

Programm sicher.net 207a

Für diese Fälle hat der auf Bewährungshilfe spezialisierte Verein Neustart das Programm sicher.net 207a entwickelt. „Man kann mit einem 14-jährigen Burschen, der solche Bilder verschickt, nicht gleich umgehen wie mit einem x-beliebigen 50-jährigen Straftäter“, verdeutlicht Josef Landerl, Geschäftsführer des Vereins in Oberösterreich, dass man in der Bewährungshilfe auf die unterschiedlichen Klienten anders reagieren müsse.

Nicht pädophil

„Man darf da nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen. Wenn wir hier mit der vollen Härte des Gesetzes vorgehen, dann haben diese Jugendlichen Einträge im Strafregister als Sexualstraftäter“, betont er, dass die Strafandrohung nicht für das angesprochene Klientel konzipiert wurde. Denn die wenigsten der für dieses Programm zugewiesenen Verurteilten sind tatsächlich pädophil.

Es geht beim Programm vor allem um Schulung im Umgang mit sozialen Medien und Verdeutlichung der Konsequenzen – vor allem auch für das Opfer.

Sechs Monate Betreuung

Das Programm „sicher.net § 207a“ gibt es seit Beginn des vergangenen Jahres und dauert rund sechs Monate. In diesem Zeitraum werden die Jugendlichen über den rechtlichen Rahmen aufgeklärt („Normverdeutlichung“), es finden Medienkompetenztrainings statt und es wird Wissen über Missbrauchsdarstellungen, Pornografie und den Umgang mit derartigen Inhalten im Web und auf Sozialen Medien erarbeitet. In Linz sind beim Verein Neustart drei Mitarbeiterinnen darauf spezialisiert.

Aufzeigen der Realität

Eine davon ist Claudia Blumenschein, die schon mehrere Jugendliche bei diesem Prozess begleitet hat. „Und unter anderem geht es darum, Normverdeutlichungen mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu machen und ihnen zu zeigen, wo die Grenzen sind. Wo sind die Grenzen zum Strafrecht? Wo bewege ich mich noch sicher und wo gehe ich schon über eine Grenze und riskiere unter anderem eine Verurteilung?“, definiert sie einen Hauptaspekt ihrer Arbeit.

Die Perspektive der Opfer

Aber es wird nicht nur auf die Täter geschaut. „Was uns wichtig ist, ist, dass wir auch eine Opferperspektive in die Gespräche einbringen. Das ist ein großer Part: Mit den Klienten zu schauen, wie entstehen solche Bilder, wie entstehen solche Sticker, wie ist es diesen Kindern auf diesen Bildern gegangen, wie diese Fotos gemacht worden sind und was sind die Folgen?“, erklärt Blumenschein weiter, dass den Programmteilnehmern – rund 90 Prozent sind männlich – auch andere Perspektiven aufgezeigt werden müssen.

Mehr Sexualbildung nötig

Sie spricht auch teils fehlende Sexualbildung an. Diese werde vielleicht in Schulen manchmal vernachlässigt. „Sie wird vielleicht von manchen Lehrkräften gemieden, einfach weil das Thema Sexualität schambehaftet ist. Weil sich keiner darüber reden traut“, fordert sie hier mehr Mut.

Unwissende Eltern

Es gehe aber auch um das Elternhaus: „Wissen wir wirklich, was unsere Kinder auf ihren Handys haben? Ganz eindeutig nicht, das geht fast allen so“, so auch Josef Landerl über einen blinden Fleck vieler Eltern. „Und da ist niemand davor gefeit. In diesen Netzwerken, in denen die Kids unterwegs sind, hat das eine andere Dimension als früher“, verdeutlicht er besorgniserregende Entwicklungen.

Offene Gespräche

So wenig es mit der Offenheit gegenüber den Eltern klappt, so mehr öffnen sich die Betroffenen aber im Rahmen des Programms gegenüber ihren Betreuern. „Es erstaunt mich immer wieder, wie offen sie sich dann doch bei mir zeigen. Sie reden mit mir über das Thema. Mir ist durchaus bewusst, dass da Jugendliche vor mir sitzen und ich auch noch nicht alt und eine Frau bin“, so Blumenschein, die selbst noch in ihren Zwanzigern ist. „Die meisten, die zu uns kommen, sind Burschen. Und mir ist durchaus bewusst, dass da Hemmungen da sein können, wenn ich dann mit ihnen über das Thema Sexualität rede“, betont sie, dass diese Offenheit keine Selbstverständlichkeit ist.

Probezeit und Erledigung

Grundsätzlich ist das Programm nach sechs Monaten beendet. „Die meisten verstehen es, dass sie einen Fehler gemacht haben. Die haben auch im Vorhinein schon ein ungutes Gefühl gehabt, wenn sie das Foto irgendwie bekommen oder weitergeschickt haben – aber dieses Bauchgefühl ignoriert“, erzählt die Bewährungshelferin aus der Praxis.

Je nachdem, ob die Zuweisung zum Programm über diversionelle Erledigung oder Verurteilung erfolgt ist, haben die Klienten ein bzw. drei Jahre Probezeit. Aber bei gutem Gelingen wird nach den sechs Monaten des Programms die Aufhebung der Bewährungshilfe beantragt.

Den Verein Neustart gibt es seit knapp 70 Jahren, er führt im Auftrag des Justizministeriums den Großteil der Bewährungshilfe durch. In Linz ist man dreimal vertreten, dazu an den Standorten der Landesgerichte in Wels, Steyr und Ried sowie Braunau als Ergänzung zu Ried. Tätig für den Verein sind in Oberösterreich rund 140 hauptamtliche und zwischen 160 und 170 ehrenamtliche Mitarbeiter. Wobei vor allem Ehrenamtliche händeringend gesucht werden. Infos: www.neustart.at

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