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Noch nie gab es so viele archäologische Ausgrabungen in St. Pölten wie heuer

Thomas Lettner, 23.11.2017 14:45

ST. PÖLTEN. Mit 16 archäologischen Maßnahmen und der Rekordzahl von 3971 freigelegten Individuen war 2017 das bisher intensivste Grabungsjahr seit der Institutionalisierung eines Stadtarchäologen am Magistrat. Damit spielt St. Pölten was die Archäologie betrifft in einer Liga mit Städten wie Berlin oder London. 2018 werden die Grabungen fortgesetzt und im Stadtmuseum eine Sonderausstellung präsentiert. Die Grabungen am Domplatz werden voraussichtlich noch eineinhalb Jahre dauern.

Domplatz: Im Vordergrund das große Massengrab. Foto: Stadtmuseum St. Pölten
  1 / 3   Domplatz: Im Vordergrund das große Massengrab. Foto: Stadtmuseum St. Pölten

Alle Maßnahmen standen unter der Leitung des Stadtarchäologen Ronald Risy und wurden entweder von einer Grabungsfirma oder dem Team der Stadtarchäologie durchgeführt. Das Spektrum reicht wie immer von Künettenbeobachtungen bis hin zu richtigen archäologischen Grabungen im Vorfeld verschiedener Bauvorhaben. Aktuelle Infos gibt es auf Facebook. Die wichtigsten Grabungen heuer waren:

Wohlmeyergründe

Nördlich des Bahnhofs wurden auf circa 8700 Quadratmeter mehrere hundert verschieden große Gruben und Gräbchen entlang eines Altarms von der Firma ARDIG festgestellt, die aufgrund des geborgenen Fundmaterials der Bronzezeit, der Römerzeit, aber auch dem Mittelalter und der Neuzeit zuzuordnen sind. Unter den Fundstücken ist eine sehr gut erhaltene römische Flügelfibel hervorzuheben.

Kremser Gasse

Im heurigen Jahr begannen auch die Sanierungsarbeiten der Fußgängerzone mit der Erneuerung der diversen Einbauten. Trotz der vielen im Boden befindlichen Leitungen konnten noch sehr gut erhaltene Reste der mit einem Ziegelgewölbe eingedeckten ersten Kanalisation dokumentiert werden. Fundamente der spätmittelalterlichen Häuser oder ein neuzeitlicher Brunnen kamen neben römischen Befunden ebenfalls zum Vorschein. Überraschend war die Freilegung einer noch bis 80 Zentimeter im Aufgehenden erhaltenen römischen Mauer.

Karmeliterhof

Im Vorfeld des am Karmeliterhof und am Wallnerareal geplanten Bauvorhabens begannen im September die archäologischen Untersuchungen mit dem maschinellen Abtrag. Als derzeit wichtigstes Ergebnis kann die Entdeckung eines spätmittelalterlichen/frühneuzeitlichen Töpfereibetriebs genannt werden. Ein ebenfalls in diese Zeit zu datierender mittelalterlicher Keller war mit tausenden von Keramikscherben verfüllt, darunter unter anderem ganz erhaltene Kacheln. Freigelegt wurde bisher auch die im Garten des Karmeliterinnenklosters errichtete Brunnenanlage aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts. Neben römischen Befunden sind mit Sicherheit noch weitere spannende Ergebnisse in den nächsten Monaten zu erwarten.

Rathausgasse 1

Im Zuge der Umbauarbeiten und Renovierung des Gebäudes Rathausgasse 1 konnten zahlreiche Mauerreste freigelegt werden, die einerseits der Römerzeit, andererseits der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Vorgängerbebauung des 1864 errichteten Hauses zugeordnet werden können, sowie zwei Brunnenanlagen. Unter dem Fundmaterial sticht ein Bodenziegel mit Relief (möglicherweise Greifendarstellung) hervor, der aufgrund des Ziegelformats derzeit ein Unikat zu sein scheint.

Wiener Strasse 12

Im Zuge der Verlegung einer Trafostation in den Innenhof der Liegenschaft kamen sehr gut erhaltene Reste des ehemaligen um 1700 errichteten Herrenhauses zum Vorschein, das dem Herrenplatz seinen Namen gab.

Viehofner Au – WWE-Gründe

Im Vorfeld der geplanten Verbauung der sogenannten WWE-Gründe in der Viehofener Au wurde eines der letzten in St. Pölten erhaltenen Zwangsarbeiterlagers der NS-Zeit freigelegt und nach heutigem Maßstab dokumentiert. Die archäologischen Arbeiten erfolgten im Auftrag des Bundesdenkmalamts. Freigelegt wurden die Betonpfeiler der ehemaligen Stacheldrahtumzäunung, die Reste der ehemaligen sechs Baracken, Teile der Infrastruktur und überraschend zwei Splitterschutzgräben. Zahlreiche Bau- und Konstruktionselemente der Gebäude geben gemeinsam mit anderen in diesem Bereich gefundenen Gegenständen des täglichen Gebrauchs wie Koch- und Essgeschirr von den Wohn- und Lebensbedingungen der Lagerbewohner Zeugnis. Interniert waren Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, vornehmlich aus der Ukraine, aber auch anderer Herkunft, die in der Glanzstoff-Fabrik Zwangsarbeit verrichten mussten.

Linzer Straße -Künetten

Im Zuge der Sanierung der Fahrbahn der Linzerstrasse wurden auch die Wasserleitung und die Fernwärme im Abschnitt zwischen Dr. Kirchl-Gasse und Stockingerbrücke erneuert. Die Aushubarbeiten wurden archäologisch vom Team der Stadtarchäologie begleitet. Dabei kamen in der einen Meter breiten und zwischen 1,8 und 2 Meter tiefen Künette insgesamt 10 Gräber, wovon 5 geborgen wurden, eine Gruftanlage, sowie Teile der nördlichen und südlichen Umfassungsmauer zum Vorschein. Von den Holzsärgen waren noch die Griffe und Beschläge aus Metall erhalten geblieben. Einer der dokumentierten Särge war aus Zinn mit Füßen in Gestalt von Löwentatzen. Der Barbarafriedhof geht auf ein mittelalterliches Seuchenspital mit eigenem Bestattungsareal zurück. Nach Auflassen des großen Friedhofes am Domplatz 1779 war hier der städtische Hauptfriedhof bis Ende des 19. Jahrhunderts situiert, bevor er zum heutigen Standort an der Goldegger Straße verlegt wurde.

Diözese-Infopoint

Der Anlass für dieses Projekt ist der geplante neue attraktive Eingang in das Diözesanmuseum und in die Diözese, der auch die angrenzenden Keller erschließen wird. Um sich für die Planungen alle Möglichkeiten offen zu halten, wurde jetzt auch noch der letzte noch nicht untersuchte Abschnitt in Angriff genommen. Die Arbeiten werden vom Team der Stadtarchäologie zumeist auf Freiwilligenbasis am Wochenende durchgeführt und heuer noch abgeschlossen. Neben zahlreichen Gräbern, die dem ehemaligen Stadtfriedhof zuzuordnen sind, sind vor allem die zahlreichen Bauphasen der ehemaligen Außenmauer des mittelalterlichen Klosters für dessen Baugeschichte von großer Bedeutung. Als Fundstück hervorzuheben ist eine wunderschöne Fibel in Gestalt eines Hirsches.

Domplatz 2017

2017 wurde eine Fläche von 356 Quadratmetern geöffnet. Im heurigen Jahr wurden 3971 Individuen freigelegt und dokumentiert. Die bisherige Höchstzahl lag bei 3.164 Individuen im Jahr 2015, verteilt allerdings auf 820 Quadratmeter. Zu dem liegt auch der Prozentsatz an Kindern bedeutend höher als in den bisherigen Grabungsjahren. Der Grund dafür ist, dass die heurige Grabungsfläche im Zentralbereich des Friedhofs zwischen den beiden Kirchen liegt, der offenbar dichter als die Randbereiche belegt wurde. Auch ein weiteres Sammelgrab konnte entdeckt werden, wo 195 Individuen geborgen wurden, ebenfalls zu einem hohen Anteil Kinder. Die Gesamtzahl der geborgenen Individuen liegt somit bei 16.608.

Römisches Gebäude am Domplatz

Auch die erhaltenen Überreste eines großen römischen Gebäudes zeigten sich noch in der Grabungsfläche, das aus mehreren beheizten Räumen, erreichbar über einen Gang, wahrscheinlich einen gepflasterten Hof und weiteren Räumlichkeiten besteht. Ob es sich um Häuser reicher Bürger handelt oder an eine öffentliche Nutzung dieser Gebäude zu denken ist, kann zu diesem Zeitpunkt nicht eindeutig beantwortet werden. Trotz der geringen Grundfläche ist die Anzahl der gemäß den Vorgaben des Bundesdenkmalamtes zu dokumentierenden Einzelbefunden mit über 4.000 höher als z.B. im Jahr 2016. Darüber hinaus kamen 1.048 Kleinfunde sowie bisher 245 Münzen zum Vorschein. Mehr als 20.000 Fotos wurden aufgenommen. Die Arbeiten sind im Wesentlichen abgeschlossen, ab 4. Dezember wird die Grabungsfläche geschlossen.

Anthropologie

„Im heurigen Jahr wurden fast 4000 Einzelindividuen am Domplatz freigelegt und anthropologische Basisdaten erhoben. Bei diesen Untersuchungen ergab sich im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren ein außergewöhnlich hoher Anteil von Kindern und Jugendlichen, circa 52 Prozent im Jahr 2017 im Vergleich zu 35-40 Prozent in 'normalen' Jahren“, berichtet der Anthropologe Fabian Kanz von der Medizinischen Universität Wien.

Verwendung von DNA-Analysen

2017 wurden in einer internationalen Kooperation mit Experten der EURAC in Bozen erste molekularbiologische NGS-Analysen durchgeführt. Diese tiefgreifenden DNA-Analysen zeigten einen exzellenten Erhaltungszustand der DNA in den St. Pöltner Skeletten und erste Überraschungen. Es konnte etwa festgestellt werden, dass bei einer, in einem Sammelgrab bestatteten, vermeintlich 18-köpfigen Großfamilie keinerlei verwandtschaftliche Beziehungen existierten. Ein Indiz für eine völlig andere Bestattungspraxis wie in unserer heutigen Zeit.

Erforschung von Krankheiten oder Klimaveränderungen

Die nun verbriefte gute Qualität der DNA sowie der einmalige Umfang der Sammlung und die lange Belegungszeit von nahezu 1000 Jahren ermöglichen über die zukünftige Forschung im Bereich der modernen Medizin und Lebenswissenschaften neue Einblicke in Mensch-Umwelt-Beziehungen. Über dieses Bioarchiv lassen sich einerseits sehr langfristigen Prozesse wie klimatische Veränderungen, aber auch periodisch wiederkehrende Epidemien und die entsprechenden Anpassungen der lokalen Bevölkerung der Stadt erforschen und unter Umständen Problemlösungen für die Zukunft ableiten.

Wie es weitergeht

Sobald es im Frühjahr 2018 die Witterung erlaubt, werden die archäologischen Grabungen wieder aufgenommen. Einige Bauprojekte, wo vorab eine archäologische Untersuchung notwendig sein wird, sind schon in Planung. Die Grabung am Karmeliterhof wird aufgrund der Größe der Fläche sicher noch weit in das nächste Jahr hinein weiterlaufen. Wie groß und welcher Teil des noch nicht untersuchten Bereichs zwischen Dom- und Diözesangebäude und der heurigen Grabungsfläche am Domplatz nächstes Jahr geöffnet wird, ist noch nicht entschieden.

Sonderausstellung im Stadtmuseum

Im Stadtmuseum findet nächstes Jahr einee archäologische Sonderausstellung zum Thema „Leben mit dem Tod“ statt. Die Schau beschränkt sich nicht auf das Mittelalter, sondern umfasst alle Epochen der Menschheitsgeschichte von der Seßhaftwerdung bis in das 20. Jahrhundert, wobei die aktuellen Funde der letzten Jahre im Mittelpunkt stehen.


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