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Erinnerung an eine Tragödie: Die „Reichspogromnacht“ in Steyr

Waltraud Neuhauser-Pfeiffer, 07.11.2022 10:01

In der von den Nationalsozialisten zynisch so genannten „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 brannten vielerorts die Synagogen. Es kam zu Ausschreitungen und Verhaftungen, auch in Steyr.

Holocaust-Gedenktafel am Jüdischen Friedhof Steyr (Waltraud Neuhauser-Pfeiffer)
Holocaust-Gedenktafel am Jüdischen Friedhof Steyr (Waltraud Neuhauser-Pfeiffer)

Der Novemberpogrom in Steyr

Ich kann mich an diesen Tag noch genau erinnern, es war der 10. November 1938. Um vier Uhr früh - wir schliefen noch - wurde bei uns zu Hause die Tür aufgerissen. Ich sah, wie das Licht angemacht wurde. Es gab ein großes Geschrei. Wie ein Überfallskommando drangen Männer der SA in Uniform und in Zivil in unser Haus ein. (Zit. in: Neuhauser, Waltraud – Neuhauser Georg: Fluchtspuren. Überlebensgeschichten aus einer österreichischen Stadt (Grünbach 1998) 41

Das erzählte der damals 15jährige Dolfi Uprimny, der mit seiner Mutter, seiner Schwester Anni, seinem Bruder Heinzi und anderen jüdischen Bürger:innen, Hermine Skalla mit ihrer Tochter Margarethe Skalla, Edith Mattausch, Hermine Fürnberg, Rosa und Margarethe Eisler, Ella Sternschein, Aloisia, Elsa und Bernhard Deutsch verhaftet und am 10. November 1938 im Steyrer Gefängnis in der Berggasse inhaftiert wurde. Das NS-Blatt „Steyrer Volksstimme“ berichtete am Tag darauf von der Pogromnacht. In diesem hetzerischen Artikel wurde erklärt, was unter „Schutzhaft“ zu verstehen sei, nämlich die Festnahme der Jüdinnen und Juden im Polizeigewahrsam, um „berechtigte Ausschreitungen der erbitterten Bevölkerung“ zu verhindern. Der Artikel endet mit einer Drohung:

Sie wurden diesmal noch höflich behandelt. Aber bei einer Wiederholung könnten wir keine Gewähr mehr dafür übernehmen. Möge dies allen eine Warnung sein: Wer sich unbelehrbar uns entgegenstellt, wird vernichtet. (Steyrer Volksstimme 11.11.1938, 7)

Die Vorgeschichte

Den Mordanschlag des siebzehnjährigen Herschel Grynszpan auf den Legationssekretär der deutschen Botschaft in Paris, Ernst Eduard vom Rath, nahmen die Nationalsozialisten zum Anlass, Gewaltmaßnahmen gegen Juden und Jüdinnen in Deutschland und Österreich zu ergreifen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und in den Folgetagen wurden Synagogen, Bethäuser, Friedhöfe, Geschäfte und Wohnungen der jüdischen Bevölkerung verwüstet und zerstört, viele wurden verhaftet und in KZs eingesperrt, misshandelt und ermordet. In Steyr blieb die Synagoge allerdings verschont, da sie schon im August 1938 „arisiert“ worden war. Schließlich vermeldete die Bezirksmannschaft Steyr an die Gestapo Linz am 30.11.1938, dass die Vergeltungsmaßnahmen „auftragsgemäß und ohne Zwischenfall“ durchgeführt worden seien und dass die Bevölkerung die Regierungsmaßnahmen gegen das Judentum „ausnahmslos und ohne Vorbehalt“ billige.

Die sogenannte „Reichspogromnacht“ markiert den Beginn der systematischen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung.

Die Folgen

Was folgte, waren die wirtschaftliche Ausschaltung, die Vertreibung und die Deportation der jüdischen Bevölkerung. Insgesamt emigrierten mehr als 130 000 österreichische Juden und Jüdinnen bis Ende Oktober 1941 aus Hitlerdeutschland (ab diesem Zeitpunkt wurden die Grenzen hermetisch geschlossen), also rund zwei Drittel der vor dem März 1938 in Österreich lebenden jüdischen Bevölkerung. Auch die Juden und Jüdinnen aus dem Gebiet der Steyrer israelitischen Kultusgemeinde wurden vertrieben, viele wurden deportiert und ermordet. Familien wurden gewaltsam auseinandergerissen. Einige flohen rechtzeitig aus ihrer Heimatstadt in andere Länder, doch Ältere und Frauen mit kleinen Kindern waren oft nicht in der Lage, das Land zu verlassen.

Erinnern und Mahnen

Heute erinnert eine Gedenktafel am Jüdischen Friedhof an 86 Holocaust-Opfer der Kultusgemeinde Steyr. Doch das Nennen der Namen ist und bleibt der hilflose Versuch, an das Schicksal jener Steyrer BürgerInnen zu erinnern, die durch den Nationalsozialismus ihre Heimat und allzu oft das eigene Leben verloren haben. Ihre Wünsche, Sehnsüchte, Leidenschaften, Ängste und Unwägbarkeiten können wir nicht erfassen. Und trotzdem bleibt der Erinnerungsversuch notwendig und das einzig Mögliche, auch wenn die Not, die die Genannten damals erlitten, nicht gewendet werden kann. Lediglich wir Nachgeborene scheinen diese Art der Erinnerungskultur nötig zu haben, weil dem Ungeheuerlichen jener Zeit vielleicht nur durch ständige Erinnerungsversuche beizukommen ist.

The history of the Holocaust is not over. Its precedent is eternal, and its lessons have not yet been learned. (Timothy Snyder, Black Earth: The Holocaust as History and Warning, 2015)

Stolpersteine

Ab dem nächsten Jahr soll vor den ehemaligen Arbeitsstätten und Wohnhäusern der ermordeten Steyrer Jüdinnen und Juden mit sogenannten „Stolpersteinen“ des deutschen Künstlers Gunter Demnig an ihr Schicksal als Mahnung für die Gegenwart und Zukunft erinnert werden. Gleichzeitig soll die Erinnerung Mahnung dafür sein, den Blick auf jene zu richten, die wir als „Fremde“ bezeichnen. Erst wenn es uns gelingt, sie als dazugehörig zu begreifen, wird das „Fremde“ als Bereicherung für unsere Kultur und Gesellschaft wahrgenommen werden.

Literatur: Neuhauser-Pfeiffer, Waltraud: Dazugehörig? Jüdisches Leben in Steyr von den Anfängen bis in die Gegenwart (Steyr, Verlag Ennsthaler 2021)


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