Lebensmittelindustrie: „Wenn sich nichts ändert, kommt Chaos“
STEYR. Immer mehr Konsumenten schauen heute genauer hin, wo ihr Einkauf und vor allem ihr Essen herkommt. Tips traf Menschen, die sich in der Region seit Jahrzehnten für gesunde, nachhaltige Lebensmittel engagieren.
Stand das abgepackte Steak je auf einer Weide? Welcher Dünger förderte das Wachstum des Gemüses im Marktregal und wie viele Kilometer haben die Zutaten für mein Dessert zurückgelegt? Fragen dieser Art beschäftigen mittlerweile viele konsumbewusste Esser. Während das Produktangebot in Supermärkten kaum Grenzen zu kennen scheint, machen Reportagen über Praktiken in der Lebensmittelindustrie besorgt. Der Appetit auf „saubere“ Kost wächst. Tips sprach mit drei Pionieren in Sachen ökologische Lebensmittel: dem Steyrer Volkswirt Gerhard Zwingler, Gründer des „Nets.werks Nachhaltig leben“ mit 16 Regionalstellen in Österreich, weiters Christian Stadler, Hofkirchner Biobauer und Gründer der Morgentau-Gärten, sowie Ernst Halbmayr. Der „Hoflieferant“ der ersten Stunde betreibt seit 1987 Biolandbau.
Tips: Herr Halbmayr, was hat Sie vor bereits über 30 Jahren dazu bewogen, sich vom konventionellen Landbau abzuwenden?
Ernst Halbmayr: Das war die Zeit der Verhandlungen zum EU-Beitritt. Damals wurde klar, wie sich unsere Landwirtschaft entwickeln wird müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben: mehr Kapitalisierung, mehr Technik, mehr Chemie. Das wollte ich nicht. Unser Betrieb schlitterte damals – als noch kaum jemand etwas mit dem Begriff „bio“ anfangen konnte – in die Direktvermarktung. Ich habe es nie bereut. Zwischen der konventionellen Landwirtschaft und dem Konsumenten sehe ich heute eine eklatante Entfremdung – dazwischen eine riesige Maschinerie. Ställe werden mit Fördergeldern auf eine Weise gebaut, wie sie wohl kein Konsument befürworten würde. Zugleich ist die Stimmung bei den Bauern extrem schlecht. Der Frust zeigt sich daran, dass oft der Generationenwechsel nicht mehr klappt.
Das Bio-Gütesiegel verzeichnet schon länger Erfolge, die Schlagworte „regional & saisonal“ tun sich noch schwerer.
Halbmayr: Jeder spürt im Innersten, dass in der Welt etwas schief läuft. Darüber nachdenken und das eigene Verhalten ändern, verheißt jedoch auf den ersten Blick ein unbequemeres Leben. Stattdessen nehmen wir Risiken in Kauf, die keine Wissenschaft noch ermessen kann. In jedem konventionellen Produkt finden sich Spuren von Spritzmitteln. Wie sie aufeinander reagieren, wissen wir nicht.
Immer wieder sprechen Kritiker vom „Öko-Schmäh“. Die Menge an Bioqualität am Markt wird hinterfragt, Firmen seien nur auf ein positives Image aus.
Halbmayr: Die ökologische Produktion ist gesetzlich geregelt und kontrolliert. Man darf das nicht mit dem Wildwuchs der Gütesiegel verwechseln, die es schon gegeben hat. Die wachsenden Bio-Mengen im Handel sind darauf zurückzuführen, dass der Konsument „bio“ nachfragt. Natürlich muss man darauf achten, dass durch diese Entwicklung bzw. eine Verknappung von Bio-Rohstoffen die Standards nicht gesenkt werden.
Kann der kleine Konsument das große System verändern?
Christian Stadler: Mit meinem Einkauf entscheide ich täglich, in welcher Welt ich leben möchte. Dass die konventionelle Lebensmittelwirtschaft schon jetzt zusieht, wie ökologische Produkte mehr werden, sagt mir: Im Handel dreht sich etwas. Wer jetzt die großen Player am Markt sind, werden es in 50 Jahren sicher nicht mehr sein.
Halbmayr: Der Wandel passiert, wenn auch noch auf zu niedrigem Niveau. Die Gefahren von konventionellen Lebensmitteln sind nicht offen dargelegt. Die Sanierung einer Grundwasserregion etwa wird nicht über die Verursacher finanziert, sondern über das gesamte Steuersystem.
Viele Konsumenten verbinden mit Bio-Lebensmitteln einen hochpreisigen Idealismus, mit regionaler und saisonaler Ernährung einen unattraktiven Verzicht.
Halbmayr: Wer sich mit nachhaltiger Ernährung befasst, wird erkennen, dass man durch sie nur gewinnt: schon einmal ein gutes Gewissen durch vernünftiges Handeln. Und das ist keine Frage des Geldes: Wer „bio“ kauft, schmeißt nachweislich weniger weg, kocht mehr selbst, verarbeitet mehr Gemüse und Getreide als Fleisch usw. In Summe entsteht eine höhere Lebensqualität. Man überlege, wie viel für Äußerlichkeiten ausgegeben wird und wie wenig Aufmerksamkeit im Vergleich das erfährt, womit wir uns täglich ernähren.
Ist denn eigentlich alles, was nicht bio ist, schlecht?
Halbmayr: Das Produkt eines kleinen Bauern, der nicht biozertifiziert ist, kann ökologisch okay sein. Doch statistisch steigt die Zahl der Spritz- und Düngemittel pro Hektar kontinuierlich.
Gerhard Zwingler: Aus meiner Sicht ist die Bezeichnung 'konventionelle Landwirtschaft' verharmlosend. Ersetzt man diese durch die Bezeichnung 'chemiebasierte Landwirtschaft', zeigt das dem Konsumenten deutlich auf, wofür er sich entscheidet. Erst wenn flächendeckend ökologische Landwirtschaft betrieben wird, können wir wirklich zufrieden sein.
Wird es für Bauern zu wenig attraktiv gemacht, umzusteigen?
Halbmayr: Bio scheitert meist an der Tierhaltung, wo fast immer ein Ausbau des Stalls erforderlich ist. Hier zweifeln viele Bauern, ob die Umstellung wirtschaftlich gelingt. Im Ackerbau ist ein Umstellen ohne Investition möglich.
Zwingler: Seit einem Jahr bin ich Obmann einer Wassergenossenschaft – die Schutzzonen sollen ausgeweitet werden. Ein unglaublich schweres Projekt, denn einerseits besteht das Reinhaltegebot, andererseits soll man den Bauern eine Entschädigung zahlen, damit sie keine Chemie ausbringen. Das ist widersinnig und doch verstehe ich die Bauern. Schaffen wir heute nicht die politischen Rahmenbedingungen, all das zu besteuern, was schlecht für Mensch und Natur ist bzw. verabsäumen wir es, ökologisches Wirtschaften zu belohnen, dann schaffen wir den Wandel nicht. Die Landwirtschaft gehört zu den größten Erdgestaltern. Nachhaltiges Bemühen braucht Anreize. Am Ende macht nur der Preis ein biologisches Produkt gegenüber dem chemiebasierten attraktiv.
Was, wenn sich der Lebensmittelsektor nicht neu erfindet?
Stadler: Wenn sich nichts ändert, sehe ich das große Chaos kommen. Man denke an das Insektensterben, die Wasserprobleme, die Unwetter. Wir haben schon so viele Alltagschemikalien um uns – mittlerweile gibt es den Begriff der chemischen Belästigung. Forscher haben kürzlich nachgewiesen, dass ein Zusammenhang zwischen Umweltgiften und der Unfruchtbarkeit bei Frauen besteht. Das alles ist ein Resultat davon, wie weit wir uns von der Natur entfernt haben. Der Wandel ist ohne Alternative.
Was raten Sie Konsumenten für mehr Nachhaltigkeit im Alltag?
Halbmayr: Bio und regional einkaufen, im Gasthaus danach fragen. Ich komme ohne Orangen im Winter aus, es gibt genug chemiefreie Alternativen aus der Region.
Stadler: Auch das Selbermachen spielt hoffentlich künftig wieder eine größere Rolle. Am besten schon im Kindesalter: Um ein Kind, das früh lernt, wie man Brot bäckt und wie man eine Tomate zieht, brauche ich mir später keine Sorgen zu machen.
DIE PERSONEN
Gerhard Zwingler (Steyr), Nets.werk-Gründer (16 Regionalstellen), baut derzeit eine Nachhaltigkeitsagentur zur Beratung politischer Entscheidungsträger auf.
Christian Stadler (Hofkirchen), Biobauer und Gründer der Morgentau-Gärten (Selbstanbauparzellen für Bio-Gemüse im städtischen Bereich – 2x in Steyr: Resthof und Münichholz)
Ernst Halbmayr (St. Peter/Au), seit 1987 Biobauer und Hoflieferanten-Gründer (erste Initiativen in Steyr ab 1993)
FILMABEND + DISKUSSION
Die Kinoreihe „Neues Bewusstsein“ in Steyr präsentiert den Film „Food, Inc. – Was essen wir wirklich?“ am Mittwoch, 30. Jänner, um 19 Uhr im City Kino. Im Anschluss diskutieren mit dem Publikum die regionalen Experten aus dem Bereich Bio-Lebensmittel Gerhard Zwingler, Ernst Halbmayr, Lukas Reiter, Christian Stadler u.a.
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