WOLFERN. Beim Landeswettbewerb der Philosophie-Olympiade (Philolympics) in Linz wurden vier Landessieger gekürt. Darunter ist Luise Hauser vom Gymnasiums Werndlpark Steyr.
32 Schüler aus ganz Oberösterreich nahmen teil und verfassten zu einem von vier Zitaten einen philosophischen Essay. Eine Jury, bestehend aus vier Philosophielehrern, hatte die Aufgabe, die vier besten Texte auszuwählen. Die vier Sieger, darunter Luise Hauser aus Wolfern (BG Steyr), werden Oberösterreich beim Bundeswettbewerb in Salzburg (30. März bis 2. April) vertreten.
Siegeressay von Luise Hauser
„Philosophen sind wie Zahnärzte, die Löcher aufbohren, ohne sie füllen zu können.“
Giovanni Guareschi, zitiert von Anne Sophie Meincke: Was ich noch sagen wollte. Philosophie Magazin 2023
An einem typischen Montagmorgen, pünktlich um 7 Uhr, verlässt man sein Haus. Sogar mit mehreren Jacken, doppelt gefütterter Skiunterwäsche und einem rot-gelb getüpfelten Merinowollschal ist einem kalt. Die Straße, die man bis zur Bahn hinuntergeht, obwohl man doch lieber im Bett geblieben wäre, ist gefüllt mit Leidensgenossen, deren Augenringe auf Schlafmangel hinweisen. Die Bahn hat Verspätung. Eine Minute. Drei Minuten. Fünf Minuten. Ungeduldig wartet man auf die Erscheinung der Blechraupe, die einen dorthin bringen soll, wo man eben an einem Montagmorgen zu sein hat – in der Schule, auf der Arbeit, beim AMS. Bevor einem dann ein Eiszapfen auf der Nase wächst, kommt sie doch. Und so beginnt ein Tag von vielen im Leben eines Menschen von vielen, auf einem Planeten von vielen, in einem Universum von vielen, in Galaxien von vielen.
Wenn der Tag vorbei und man mit Arbeitskollegen einen trinken gegangen ist, gelacht hat und sich über die Liebesbeziehungen anderer, Tratsch oder über die verrückt gewordene Tante eines Arbeitskollegen der Schwester der Freundin seines Schwagers ausgelassen hat, heimgefahren ist und im Bett liegt, lässt man den Tag Revue passieren. Dann bemerkt man vielleicht, dass es ein Tag von vielen eines Menschen von vielen, auf einem Planeten von vielen, in einem Universum von vielen, in Galaxien von vielen war. Und dann beginnt man, je nach mentaler Stabilität, sich entweder in eine Existenzkrise hineinzumanövrieren oder seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und dem Labyrinth im eigenen Hirn die Erlaubnis zu geben, sich zu verschachteln.
Ja, warum gibt es überhaupt diesen Tag? Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Da es -warum auch immer- etwas gibt, was ist der Sinn des eigenen Lebens? Wie soll man denn eigentlich leben? Die Mutter hat einem gesagt, dass es wichtig ist, ein guter Mensch zu sein, aber was bedeutet „gut“ überhaupt? Wenn jedes Weltbild subjektiv ist, ist dann das einzig richtige Weltbild ein Mosaik aus allen unseren Weltbildern oder sind sie kollektiv falsch? Was ist falsch? Gibt es etwas objektiv Falsches?
Während der durchschnittliche Merinowollschalträger, Arbeitnehmer und Mensch diese Gedanken nur in den nächtlichen Stunden, der Midlife-Crisis oder nach einem sehr schlechten Marihuana-Trip bekommt, sind die Philosophen wohl tagtäglich, stündlich, ja sogar sekündlich von diesen Gedanken ohne schnell gefundene Antworten geplagt.
Einer der Hauptkritikpunkte an der Philosophie ist genau dieser Umstand, dass sie Fragen ohne Antworten liefert. Was haben diese Fragen dann überhaupt für einen Mehrwert? Ist die Philosophie sinnlos? Auch ein Zahnarzt, der ein Loch aufbohrt, ohne es zu füllen, hat versagt, denn er ändert nichts am Leidensdruck des Menschen, wühlt nur im Problem, ohne es tatsächlich zu lösen, wo doch genau das seine Aufgabe wäre. (Burnout bei Philosophen liegt dann wahrscheinlich in der Erkenntnis, dass, wenn nichts auf dieser Erde einen Sinn hat – dann wohl auch die Philosophie nicht.)
Die Philosophie wird oft als ein intellektuelles Werkzeug beschrieben, welches die tiefsten Fragen des Lebens untersucht. Wahrlich zählt die Philosophie zu den meist umstrittenen Disziplinen in etlichen Zeitaltern. Das Zitat deutet an, dass Philosophen zwar Probleme aufzeigen und analysieren, aber selten Lösungen anbieten. Dieser Vergleich wirft die Frage auf: Ist das Aufbohren von „Löchern“ in unserem Denken wirklich sinnbefreit, wenn keine endgültigen Antworten folgen? Oder liegt die wahre Stärke der Philosophie gerade in ihrem Prozess des Fragens und Hinterfragens?
Das Bild der Philosophen als Zahnärzte ist treffend, wenn man die Kernarbeit der Philosophie betrachtet: das systematische Hinterfragen von Annahmen, das Aufdecken von Widersprüchen und das Suchen nach tieferliegenden Ursachen. Philosophen wie Sokrates, Immanuel Kant oder Martin Heidegger haben komplexe Themen untersucht, die oft keine einfachen Antworten zulassen. Die sokratische Methode, bei der Sokrates Fragen stellt, um Annahmen zu hinterfragen und auf Widersprüche hinzuweisen, war zwar aufklärend, jedoch auch frustrierend, da sie selten eine simplifizierte Lösung oder Antwort bereithielt.
In einer Welt, die nach Effizienz und greifbaren Ergebnissen verlangt, wirkt die Herangehensweise der Philosophie unpraktisch. Doch gerade hier beginnt die eigentliche Bedeutung der Philosophie.
Beim ersten Mal Lesen könnte man daher der These „Philosophen sind wie Zahnärzte, die Löcher aufbohren, ohne sie füllen zu können“ möglicherweise etwas abgewinnen – jedoch nur, weil sie auf einer oberflächlichen Ebene wirkt. Sobald man jedoch die Aufgabe eines Zahnarztes mit der eines Philosophen vergleicht, wird ihre Absurdität eindeutig.
Im Gegensatz zu einem Zahnarzt ist es nicht die Aufgabe eines Philosophen, ein Problem zu lösen oder ein Loch zu füllen. Philosophen denken und stellen Thesen auf, die uns ermächtigen, entweder selbst die Lücke im Zahn zu füllen oder sie überhaupt erst zu erkennen. Sie erforschen Zahnschmerzen, die zwar schon lange da sind, denen wir jedoch im alltäglichen Leben keine Bedeutung schenken. Wie sollen wir Löcher füllen, von denen wir nichts wissen, weil wir in unserer selbst geschaffenen Normalität festsitzen?
Angenommen, die verrückte Tante vieler Bekannter seines Schwagers schenkt einem ein Puzzle. Wenn das Puzzle in der Verpackung bleibt, ist es leicht, es für ganz zu halten. Wird es aber tatsächlich ausgepackt, wird jedes Teil nach Farbe und Form sorgfältig sortiert und dann zusammengefügt, erst dann fällt auf, dass nur ein Teil des Bildes erkennbar ist. Das Bild ist alles: die Welt, das Universum und alles, was wir nicht kennen oder beschreiben können, weil es viel zu groß für uns ist. Die Teile des Bildes, die durch das Puzzeln erkennbar geworden sind und sich unabhängig voneinander zusammengefügt haben, sind das menschliche Verständnis von allem. Genau das ist die Aufgabe der Philosophie: Sie fügt Gedanken wie Puzzleteile zusammen und erkennt, dass es fehlende Teile geben muss, die wir bräuchten, um das ganze Bild zu sehen und die Welt zu verstehen.
Unsere Gedanken sollten aber nicht dort enden, wo unser Verständnis aufhört. Der Mensch gibt sein Bestes, alles zu vereinfachen, zu generalisieren und zu schubladisieren, um es verstehen zu können. Er schafft Systeme – Bildungssysteme, Arbeitssysteme, Klassen, Stände, Stereotype, Gruppierungen und Einteilungen, die es leicht machen sollen, die Welt erklärbar zu machen und sie zu ordnen. Und so machen wir diese Welt zu unserer. Dieses Universum zu unserem. Alles mit unserer Ordnung, die wir als Normalität betrachten. Es ist schlichtweg komfortabler, sich nicht mit den vielen Ebenen unserer Wahrnehmung und unterschiedlichen Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Um Gehirnleistung zu sparen und sich nicht anstrengen zu müssen, denken, handeln und lernen wir oft durch und in Systemen.
Die Philosophie bindet sich allerdings an kein System. Genau im Gegenteil: Sie lebt von einer Vielfalt an gedankenreichen Auseinandersetzungen mit verschiedensten Themen oder Problematiken, die bei genauerem Hinsehen keine eindeutig richtige Anschauung, Kategorie oder Lösung zulassen. Genau das ist der Schlüssel zum Wachstum: weiterzudenken, auch wenn uns viele Teile fehlen. Wie sollte man sonst zu neuen Erkenntnissen kommen? Nur weil es noch keine oder keine eindeutigen Antworten gibt, bedeutet das nicht, dass die Fragestellung sinnlos ist und nichts an der Ausgangssituation verändert. Denn erst das in Frage stellen ermöglicht es der Menschheit oder dem Individuum, in manchen Bereichen Lösungen zu finden.
Es mag den Eindruck erwecken, dass die Philosophie im Vergleich zu anderen Disziplinen unvollständig ist. Denn Naturwissenschaften etwa liefern klare Antworten und praktische Anwendungen. Ein Astrophysiker, der die Schwerkraft untersucht, liefert Modelle und Formeln, die uns helfen, Raketen ins All zu schicken. Ein Arzt, der Krankheiten erforscht, entwickelt Heilmittel. Und sogar die Geologen bleiben am Boden der Tatsachen und verzetteln sich nicht wie manche Philosophen in endlosen Debatten, die kaum Bezug zur Realität haben. Diskussionen über abstrakte Begriffe wie „Substanz“ oder „Universalien“ wirken oft weltfremd. Hier scheint das Bild eines Zahnarztes, welcher nur um des Bohrens willen bohrt, passend. Doch selbst diese Auseinandersetzungen können indirekt nützlich sein, indem sie unsere Denkgewohnheiten herausfordern, was nach der Langlebigkeit etlicher Philosophen zu urteilen wohl der geistigen Gesundheit zuträglich ist.
Außerdem wäre es falsch, die Philosophie nur an ihrem „Nutzen“ zu messen. Schließlich hat sie vielen Wissenschaften die Fragestellung geboten und ist somit die Grundlage, das Fundament unserer Forschungen, Ergebnisse und Erfolge. Ohne die philosophischen Überlegungen zur Ethik gäbe es zum Beispiel keine bioethischen Standards in der Medizin. Ohne die Philosophie gäbe es weder Demokratie noch die moderne Psychologie oder die wissenschaftliche Methode. Philosophie ist die „Denkwerkstatt“, in der die Werkzeuge geschmiedet werden, die andere Disziplinen nutzen. Und somit ist sie weitaus fundamentaler und essentieller, als oft geglaubt.
Das Zitat „Philosophen sind wie Zahnärzte, die Löcher aufbohren, ohne sie füllen zu können“ spiegelt eine weitverbreitete Kritik an der Philosophie wider: Sie stellt mehr Fragen, als sie beantwortet. Doch genau hierin liegt ihre Stärke. Denn während Zahnärzte ihre Arbeit mit der Füllung des Zahns abschließen, ist die Philosophie nie abgeschlossen. Sie bleibt allgegenwärtig – in der Kunst, jedes noch so kleine Teil zu absorbieren, seinen Kopf um 360 Grad zu drehen, bis man alle Sichtweisen gesehen hat und wieder am Ausgangspunkt zurückgekehrt ist. Sie bleibt allgegenwärtig – Sei es in großen Bibliotheken, versteckt in alten Büchern der größten Denker oder in ihrer alltäglichen Form nach einem Drink mit den Arbeitskollegen spät abends.
Philosophen mögen keine eindeutigen Antworten liefern, jedoch schenken sie uns etwas Wertvolleres: die Werkzeuge, um besser zu denken und zu verstehen, die Werkzeuge, um zu wachsen und zu lernen. Die Löcher, die sie „bohren“, sind keine Defizite, sondern eine Einladung, tiefer zu graben, bis wir in den Wurzeln, den Knochen unseres Selbst angekommen sind. Sie schenkt uns die Möglichkeit, die vielen Ebenen unseres Daseins, der Welt und unserer Vorstellung in vielen Facetten zu sehen. Sie bietet einen Regenbogen an Wahrnehmungsmöglichkeiten, Perspektiven, Weltbildern und Gedankenpalästen, wo wir vorher nur Schwarz und Weiß sehen konnten.
Vielleicht verändert die These eines Philosophen nicht direkt etwas Physisches, füllt kein Loch im Zahn, findet keine einfache schnelle Lösung oder den einzig richtigen Weg. Jedoch verändert sie unsere Wahrnehmung auf die Welt und stellt somit etwas Mächtigeres bereit als eine einfache Amalgam-Füllung im Zahn eines Menschen. Die Philosophie zeigt, dass es keine Schande ist, Fragen zu stellen – im Gegenteil, darin liegt ihr größter Beitrag.
Schließlich ist der alltägliche Gebrauch der Philosophie individuell. Nach den Gedankenspiralen um 3 Uhr morgens lässt man sich – je nach Typ Mensch – entweder auf die kunstvoll bunte, facettenreiche Welt der Philosophie ein und entschließt sich, mit ihrer Hilfe seine eigenen Löcher zu füllen, wird selbst zur verrückten Tante eines Arbeitskollegen vieler Bekannter seines Schwagers, oder denkt sich: „So ein Blödsinn!“, während man in einen Schlaf entgleitet und am nächsten Tag um 6:30 Uhr erwacht. In diesem Falle trinkt man hastig seinen Kaffee, zieht sich Skiunterwäsche, mehrere Jacken und seinen Merinowollschal an und verlässt pünktlich um 7 Uhr sein Haus.
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