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Pflegemodell nach Böhm - Wertschätzendes Leben in vertrautem Milieu in fremder Umgebung

Thomas Lettner, 15.11.2018 12:26

WILHELMSBURG. Das Pflege- und Betreuungszentrum Wilhelmsburg wurde heuer zum vierten Mal nach dem Psychobiographischen Pflegequalitätssignum nach Erwin Böhm zertifiziert. Das Pflegemodell unterstützt ältere Menschen dabei, sich auch im Alter wertgeschätzt und verstanden zu fühlen.

Direktorin Doris Bayerl (Mitte) mit zwei Bewohnerinnen. Fotos: Thomas Lettner
  1 / 4   Direktorin Doris Bayerl (Mitte) mit zwei Bewohnerinnen. Fotos: Thomas Lettner

Das Pflege- und Betreuungszentrum Wilhelmsburg wurde 2012 als erstes Pflegeheim in Niederösterreich nach dem Pflegemodell nach Erwin Böhm zertifiziert. Für die Zertifizierung müssen gewisse Kategorien wie die psychobiographische Milieugestaltung erfüllt werden. „Unsere Bewohner kommen aus verschiedenen Milieus wie dem Bürgertum, der Arbeiterschaft oder dem Bauernstand. Je nach Milieu wird auch ihre Umgebung im Heim gestaltet“, erzählt Direktorin Doris Bayerl.

Stärkung des Ich-Empfindens

So werden in den Zimmern der Bewohner Möbel aus ihrem Eigenheim platziert und an den Wänden und Türen alte Fotos oder Türschilder mit dem ehemaligen Beruf oder dem Hofnamen aufgehängt. Auch vertraute Gerüche spielen eine wichtige Rolle. Aufschriften wie „Toilette“ oder „Spüle“ werden durch „Abort“ und „Waschküche“ ersetzt. „Demente Menschen werden wenn sie in ein Heim kommen aus ihrem vertrauten Umfeld herausgerissen und ziehen sich in die Vergangenheit zurück. Mit der Milieugestaltung werden sie in ihrem persönlichen Ich-Empfingen gestärkt“, so Bayerl. Dadurch werde nicht nur das für Demenzerkrankte typische Fluchtverhalten eingedämmt, auch eine Reduktion bei der Gabe von Psychopharmaka sei zu beobachten.

Leben wie früher

Eine weitere wichtige Kategorie in der Zertifizierung nach Böhm ist das Normalitätsprinzip. Dieses besagt, dass die Bewohner im Heim so leben dürfen, wie sie es wollen und von zuhause gewohnt sind. „Wir hatten einen über 100-jährigen Bäcker, der immer um zwei Uhr früh munter wurde. Damit ihm nicht fad ist und er nicht andere Bewohner stört, haben ihm unsere Mitarbeiter Teig vom Markt besorgt. Er konnte ihn dann auslegen und Kekse ausstechen“, erzählt Bayerl. Auch die Körperpflege richtet sich nach der Gewohnheit des Bewohners. Weil zuhause niemand das Essen mit dem Tablett serviert bekommt, wird es den Bewohnern von Küchenmitarbeitern auf das Teller geschöpft.

Persönliches Erleben

Das Pflegemodell nach Böhm wird nicht zwangsläufig bei jedem Bewohner und auch nicht bei jedem Demenzkranken angewandt, sondern dann, wenn Verhaltensauffälligkeiten zu beobachten sind. Um auf jeden Bewohner optimal eingehen zu können, ist viel biographische Forschungsarbeit notwendig. Neben einem Gespräch mit den Angehörigen ist vor allem die Eigenbiographie des Bewohners wichtig. „Man muss auf das persönliche Erleben der Bewohner eingehen. So wird ihr Selbstwert gesteigert und ihnen die Angst vor dem Pflegeheim genommen“, erklärt Bayerl. In der hausinternen Pflegedokumentation werden die individuellen Aussagen und Geschichten (“Storys“) der Bewohner gesammelt und ihr Verhalten wöchentlich evaluiert. Anschließend werden daraus Maßnahmen abgeleitet, an die sich alle Mitarbeiter des Hauses halten müssen.

Großes Interesse aus dem Ausland

Damit das reibungslos funktioniert, ist eine Schulung des gesamten Personals erforderlich. Über 80 Prozent des Pflegepersonals im Pflege- und Betreuungszentrum Wilhelmsburg haben eine psychogeriatrische Zusatzausbildung nach Böhm absolviert. Ehrenamtlich Tätige, Zivildiener und alle Mitarbeiter der Sozialbetreuungsberufe absolvieren einen dreitägigen AVL-Kurs, bei dem es darum geht, alte Menschen verstehen zu lernen. Alle anderen Bereiche erhalten eine eintägige Einführung in das Pflegemodell nach Böhm, das neben dem Pflege- und Betreuungszentrum Wilhelmsburg in NÖ derzeit nur im Pflege- und Betreuungszentrum Tulln und im Caritas Pflegeheim Haus St. Elisabeth in St. Pölten umgesetzt wird. Interesse gibt es auch aus anderen Bundesländern und dem Ausland. „Vor einem Monat hatten wir eine Delegation aus Tschechien da. Auch Führungskräfte aus Serbien, der Slowakei oder aus Oberösterreich haben uns schon besucht“, sagt die Direktorin.


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