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AMSTETTEN. Der Stadtarchivar a. D. Josef Plaimer führte mit dem einst von den Nazis vertriebenen 99-jährigen Ludwig Surkin ein tiefgehendes Gespräch.

Ludwig Surkin, Sohn Eddie Surkin, Christine und Rudolf Hödl, Josef Plaimer
Ludwig Surkin, Sohn Eddie Surkin, Christine und Rudolf Hödl, Josef Plaimer

AMSTETTEN. Ludwig Surkin war Mitglied der der jüdischen Kultusgemeinde Amstetten. Im Jahr 1938 wurde der damals 18-jährige von den Nazis vertrieben. Aus Liebe zur Stadt Amstetten hat er sich seit rund 50 Jahren zur Gewohnheit gemacht, alle zehn Jahre von Los Angeles nach Europa zu kommen, um Österreich weiter kennenzulernen und insbesondere in Amstetten seine Kindheitserinnerungen aufzufrischen.

Ausstellungseröffnung

Der Stadtarchivar a. D. Josef Plaimer berichtet: Ludwig Surkin war – vorerst unerkannt – im Rathaus bei der Eröffnung der Fotoausstellung „Amstetten im Bild – damals und jetzt“. Erst als er vor dem Foto der ehemaligen Hauptschule in der Kirchenstraße 18 – die in der Zwischenzeit für „Betreubares Wohnen umgebaut wurde – stand und sagte, „Hier bin ich den 1930er-Jahren zur Schule gegangen“, wurde er von einigen älteren Besuchern erkannt. Mit großem Interesse sah er sich die Ausstellung durch und meinte anerkennend, dass sich Amstetten wohltuend verändert habe.

Die Lebensgeschichte

Am Tag darauf besuchte PlamierLudwig Surkin im Hotel Gürtler, wo er bei seinen Aufenthalten bei Familie Hödl ständig Unterkunft nahm, und bat ihn zu einem Gespräch. Locker, leicht und klar sprach Ludwig Surkin über seine Kindheit, Jugendzeit und sein gar nicht so rosiges früheres Leben.Josef Surkin berichtete: „Obwohl ich von den Nationalsozialisten aus dem Elternhaus vertrieben wurde, hatte ich ein sehr interessantes Leben. Ich bin in Amstetten geboren, besuchte hier die Grundschulen und anschließend die Eisenfachschule in Waidhofen/Y. Meine Eltern besaßen in der Linzer Straße Nr. 5 ein kleines Kleidergeschäft, doch Vater verstarb schon früh. Mit dem Lernen hatte ich weniger Freude, besser ging es in den Nebenfächern, so bei Singen und Sport. Nur in zwei Fächern hatte ich besonderes Interesse, das waren Technik und Musik. Ich konnte in der Hauptschule schon gut Akkordeon spielen.

Nach der politischen Wende im März 1938 wurde massiv gegen die Juden Stimmung gemacht. Die Machtübernahme war ein Massenauflauf: Als Hitler durch die Stadt nach Wien fuhr, standen noch mehr Menschen mit fanatischen Rufen an den Straßen und die „Volksabstimmung“ für den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich war sowieso eine Farce, begleitet von Gewalt und martialischen Drohungen gegen die Menschen.Lederhose verbotenAls im Frühjahr 1938 ein Nationalsozialist zu mir sagte: „Du bist ein Jude, du darfst keine Lederhose tragen!“ läuteten bei mir die Alarmglocken. Nachdem in den nächsten Wochen immer mehr Repressalien gegen die Juden bekannt wurden, fasste ich den Entschluss auszuwandern.

Illegale Ausreise als einzige Fluchtmöglichkeit

1938 versuchte ich über einige südamerikanische Konsulate auszuwandern, doch ohne Erfolg, niemand nahm mich jungen Juden an. Die letzte Möglichkeit war ein illegaler Zugtransport, um über Athen mit Schiff nach Palästina einzureisen. Auch diese Möglichkeit barg die Gefahr der Verhaftung und Abschiebung in sich, da damals die Engländer die Einwanderung europäischer Juden mit allen Mitteln zu verhindern versuchten.

Beim Transport im Juni 1938 war die Angst mein ständiger Begleiter. Meine Mutter, die in der Zwischenzeit auch Amstetten verlassen hatte und nach Wien gezogen war, gab mir für die beabsichtigte Reise einen 5-Dollarschein, den ich gut in meiner Kleidung versteckte. Vor der Kontrolle durch die mitreisenden deutschen Soldaten band ich die Banknote fest an eine Schnur, die ich dann beim Zugfenster hinaushing, damit sie nicht gefunden wurde. Weiters wurden bei allen Ausreisendendie Sohlen ihrer Schuhe aufgeschlitzt, um nach eventuell versteckten Schmuckstücken oder Edelsteinen zu suchen.Im Hafen von Piräus nahm man allen vor der Einschiffung Richtung Palästina das mitgeführte Gepäck weg. Die Überfahrt dauerte drei Tage, bei der wir hungern mussten. In der vierten Nacht ging das Schiff außerhalb der 5-Meilen-Zone vor Anker.

Bei starkem Wellengang ums Überleben schwimmen

Wir wurden gezwungen, ins Wasser zu springen und an Land zu schwimmen. Dadurch, dass starker Wellengang herrschte, und jene, die nicht gut schwimmen konnten, kamen viele ums Leben.Die erste Arbeit, die mir in Palästina zugewiesen wurde, war eine auf einer Orangenplantage, wo wir neu Eingereisten für die Bewässerung zu sorgen hatten. Bei Tag liefen wir ständig Gefahr, von den Arabern beschossen zu werden. Viele der hierher geflohenen Juden sind aus dem Hinterhalt getötet oder verletzt worden. Zu Essen bekamen wir lange Zeit nur Brot und Wasser zum Trinken.Eines Tages blieb das Wasser aus, weil offenbar die Pumpe defekt geworden war. Da kein Pumpenwärter zur Verfügung stand, durfte ich – weil ich Gott sei Dank das Grundwissen als Mechaniker erlernt hatte – die Pumpe reparieren. Daraufhin erhielt ich den Auftrag, alle Pumpen unseres Bereichs zu kontrollieren und allenfalls funktionsfähig zu machen. Dafür erhielt ich nun monatlich drei Pfund, mit denen ich alle rund 60 Einwanderer, die die Flucht überstanden hatten, mit mehr als nur Brot verköstigen konnte.

Aufgrund der wiederholten Angriffe der Araber musste ich mein Haus befestigen. Ich sicherte die Wände außen mit hohen Stahlplatten, von der israelitischen Untergrundbewegung erhielt ich Gewehre, Munition und Handgranaten. In einer Fensternische baute ich ein Maschinengewehr auf und unter meinem Bett befand sich ein regelrechtes Waffenlager (von dem meine Frau keine Ahnung hatte).

In den ersten 1940er-Jahren wollte ich in unserer Orangenplantage anstatt der Pferde und Esel, die ungemein pflegebedürftig und oftmals krank waren, einen Traktor anschaffen. Die übrigen Mitglieder unserer Gemeinschaft waren jedoch dagegen. Daraufhin trennte ich mich von meinen bisherigen Gefährten und suchte in der nächsten Stadt Nathania nach neuer Arbeit.

Arbeit in einem Hotel

In einem Hotel, das einem Einwanderer aus Deutschland gehörte, durfte ich eine größere Anzahl von Öfen reparieren, die bisher niemand instand setzen konnte. Nach einem Tag Arbeit waren alle Öfen bereits am Abend wieder in Betrieb. Dem Hotelier gefiel das und ich durfte bleiben. Ich nahm alle Arbeiten, die mir aufgetragen wurden, an: Ich wusch Geschirr ab, reinigte die Zimmer und spielte Akkordeon. Da ich alle Aufträge bereitwillig erledigte, stieg ich alsbald zum Kellner auf. Auch meine Frau und ein Ehepaar aus St. Pölten wurden vom Hotelbesitzer eingestellt.

Im Fortgang des Krieges war eine Reihe von Diamantenschleifern aus Belgien eingewandert. Diese Arbeit faszinierte und inspirierte mich zum beruflichen Umstieg. Meine erlernten technischen Kenntnisse haben mir dabei wieder sehr geholfen. Nach geraumer Zeit hatte ich so viel verdient, dass ich mich selbständig machen konnte und eröffnete eine kleine Autoreparaturwerkstatt. Neben meiner beruflichen Tätigkeit verdiente ich auch einiges Geld mit dem von mir gegründeten Orchester.

So gesehen haben mir die Ausbildungen in Nebenfächern, wie Singen und Musizieren sowie Sport - z.B. Schwimmen bei der „Flucht“ oder gar die Wendigkeit im Kampfeinsatz - zum Weiterkommen bzw. zum „Überleben“ sehr geholfen.

1948 gaben die Engländer das Mandat über Palästina auf, worauf zwischen den Arabern und den eingewanderten Juden ein erbitterter Kampf entbrannte. Der Staat Israel wurde ausgerufen. Ich sah es als meine Pflicht an, mich der israelischen Untergrundarmee anzuschließen. Zuerst mussten wir uns Waffen besorgen und auch an diesen ausgebildet werden. In meinem Bereich gelang es uns, den Engländern zwei Panzer und ein Maschinengewehr sowie aus einem Transportzug Waffen für unsere Armee zu stehlen.

Wir hatten vorerst keine Uniformen und mussten in Zivil kämpfen. Unsere wichtigste Aufgabe war die Eroberung der Wasserpumpenstationen und der Lagerhallen, die von den Engländern bei ihrem Abzug den Arabern übergeben worden waren. Diese Wasserstationen mussten wir in schweren Kämpfen erobern, wobei sogar so genannte „Selbstmordkommandos“ eingesetzt wurden. 

Nach dem Krieg arbeitete ich wieder in meiner Autowerkstatt. Ende der 1950er-Jahre wurde mir aber immer mehr bewusst, dass ich für meine Familie und mich (ich hatte zwei Söhne) in Israel keine aussichtsreiche Zukunft erwarten könne. Darum ging ich nach Amerika, wo ich vorerst nicht Fuß fassen konnte und nach einem halben Jahr wieder nach Israel zurückkehrte.

Auswanderung in die USA

Die Idee der Auswanderung ließ mich fortwährend nicht mehr los. 1962 wanderte ich nun endgültig nach den USA aus. Aber bald mussten wir neuerlich einen Standortwechsel machen, denn meine Frau hielt in New York die Hitze nicht aus. Darum beschlossen wir, nach Kalifornien zu gehen. Mit 500 geliehenen Dollars wagten wir - meine Frau und ich mit unserem jüngeren Sohn - einen Neuanfang. Der ältere Sohn musste zunächst in Israel zurückbleiben, weil er militärpflichtig war.

In Kalifornien nahm ich wieder jede Art von Arbeit an, wurde Schweißer und verdingte mich auch in Hollywood in der Filmindustrie, wo ich wieder mein erlerntes technisches Können aus der Eisenfachschule in Waidhofen/Y., insbesondere als eine Art „Feuerwerker“ bei Knallkörpern, sehr gut einsetzen konnte. Nach mehreren Jahren des Auf und Ab verdanke ich es wieder meinem technischen Können und meiner Ausdauer, dass ich mir ab 1970 eine neue selbständige Existenz aufbauen konnte.

Derzeit besitze ich in Los Angeles zwei Metall verarbeitende Fabriken, wobei ich eine vermietet habe. In meiner Firma stehen großteils Stanzmaschinen, die zu 80 Prozent rostfreien Stahl für andere Zulieferfirmen verarbeiten, wie beispielsweise Autoteile als auch Leitern. Manche Stanzmaschine steht schon seit dem Beginn meiner Firma an in der Halle.

Ich habe mir am Anfang gebrauchte und teils havarierte Maschinen – teure konnte ich mir sicher nicht leisten – gekauft, zerlegte sie, reparierte Schäden oder fügte neue Ersatzteile ein und baute sie wiederzusammen. Einige laufen auch heute noch, und das schon seit fast 50 Jahren. Ich kenne ihren Lauf, ob sie richtig läuft. Bei einer Nuance eines anderen Tons merke ich, dass an der Maschine etwas nicht stimmt. Bei so langer Zeit im Umgang mit Maschinen erwirbt man schon ein bestimmtes Gefühl dafür. Gelernt habe ich ja mein Handwerk in der Eisenfachschule in Waidhofen/Y. in den 1930er-Jahren, obwohl ich mehrmals in diesem Fach nicht die besten Noten erhielt.

Im Jahre 1939 heiratete ich meine erste Frau, die mir zwei Söhne (Eddie, Jg. 1944 und Jury, Jg. 1945) geboren hat. Sie ist Anfang der 1980er-Jahre verstorben. 1986 heiratete ich in Los Angeles meine zweite Frau, die jedoch in der Zwischenzeit bereits auch gestorben ist. So bin ich seit einigen Jahren wieder Witwer, wasche mein Geschirr und ordne meinen Haushalt. Nur einmal pro Woche kommt eine Putzfrau, die die Wohnung einer genaueren Reinigung unterzieht.

Ich telefoniere sicher sehr viel mit meinem Sohn Eddie und den Enkeln. Mein zweiter Sohn Jury ist leider vor vier Jahren an Krebs gestorben. Ich habe insgesamt sechs Enkel und zehn Urenkel. Mein Schatz oder besser mein Reichtum ist einfach meine Familie, in der menschlich und fürsorglich miteinander umgegangen wird.

Kontakt zu Amstetten

Früher habe ich jahrelang oftmals an Samstagen mit meinem Jugendfreund Josef Freihammer telefoniert, um über Amstetten das Neueste in Politik und Tagesgeschehen zu erfahren. Denn ich hatte niemals einen Groll gegen die Stadt oder ihre Menschen, sonst käme ich ja wiederholt und sogar mit meinen Söhnen immer wieder nach Amstetten! Doch leider ist diese Quelle versiegt, mein Jugendfreund Freihammer aus den 1930er-Jahren ist vor über zehn Jahren, am 7. März 2008 88-jährig verstorben. Bei den Besuchen in Amstetten habe ich auch sehr gerne meinen Hauptschulkollegen Heinrich Gollonitsch - er war von 1950 bis 1985 im Gemeinderat der Stadt - getroffen und mich gerne über die alten Zeiten und so manchen Schulspaß unterhalten.

Hausmann

Wie sieht denn mein jetziger Alltag aus? Ich bin grundsätzlich ein Hausmann und lebe sehr sparsam. Das habe ich von meinen Eltern und durch meine frühen Erlebnisse so gelernt. Ich stehe an Arbeitstagen – auch heute noch! - stets um 5 Uhr Früh auf, mache mir den Kaffee und lese die Zeitung. Danach bin ich auch heute noch pünktlich ab 7 Uhr in meiner Firma bei 15 Arbeitern und laufenden Maschinen. Um 16 Uhr ist Arbeitsschluss, gehe nach Hause und kaufe dabei für den Haushalt Notwendiges ein. Diese fast spartanische Lebensweise erhält mich fit und vital. Das einzige was ich hin und wieder benötige, ist jetzt ein Gehstock, der mir über schwierigere Wegstellen oder Stiegen hinweghelfen muss.

Danach beginnt meine 'Ruhezeit', in der ich lese und wieder lese sowie etwas fernsehe, denn Information ist für mich alles. Ich bin im positiven Sinne stets gierig nach Unterlagen und Nachrichten aus Amstetten. Ich informiere mich sonst grundsätzlich durch Zeitungen, nehme aber aktiv am politischen Geschehen sicher nicht mehr teil.“

Der Eindruck Josef Plaimers

Josef Plaimer erklärt nach dem Gespräch: „Ich war tief beeindruckt von seiner sichtbaren Agilität und dem Optimismus, die der nunmehr im 99.-Lebensjahr stehende Ludwig Surkin an den Tag legte. Wenn er 'am Boden lag', stand er immer wieder auf, er ließ sich einfach nicht entmutigen und unterkriegen. Besonders wichtig für Surkin war, wie er es wiederholt betonte, die fundierte Schulbildung in der damaligen Eisenfachschule in Waidhofen/Y., die ihm ungemein zum Weiterkommen und Überleben geholfen hat. Mit Ehrfurcht und Hochachtung muss man die Aussagen eines Zeitzeugen wahrnehmen und so gut es geht niederschreiben, um diese wichtigen Ausführungen unseren Nachkommen zu hinterlassen.

Dazu passt bestens die Aussage des verstorbenen Hobby-Heimatsforschers Leopold Zeiner, ein ehemaliger Bediensteter der Stadtgemeinde Amstetten, der in seinen Aufzeichnungen (und wie recht er meiner Ansicht nach auch hatte) folgendes schrieb: 'Immer rascher fallen die Zeugen unserer Vergangenheit; ich möchte sie halten, sie fragen, Anteil haben am Schicksal ihres Lebens, sie, die die Gegenwart kaum mehr erfassen können'.

Das ist mit ein Grund, weshalb auch ich versuche, vieles zusammenzuschreiben, um es an die Nachwelt zu überliefern, um jungen Menschen damit einen kleinen Einblick in das vergangene Jahrhundert, vor allem in die Zeit, in der wir, die ältere Generation, lebten, zu ermöglichen.“


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