AMSTETTEN. Vor 15 Jahren wurde der Inzestfall von Amstetten bekannt. Die ganze Region stand unter Schock, die Stadt wurde von Journalisten aus aller Welt belagert. Die freie Journalistin Lisa Rossiwall und Tips-Redakteur Norbert Mottas teilen ihre Erinnerungen.
Am 27. April 2008 wurde eine 19-jährige Frau ins Amstettner Landesklinikum eingeliefert. Bei ihr ein Brief, in dem ihre Mutter um Hilfe bat. Damit kam einer der spektakulärsten Kriminalfälle Österreichs ans Tageslicht. Der damals 73-jährige Josef Fritzl – er hat mittlerweile seinen Namen geändert – hatte seine Tochter 24 Jahre lang im Keller seines Hauses gefangen gehalten, sie vergewaltigt und mit ihr sieben Kinder gezeugt. 2009 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt und ist derzeit in der Justizanstalt Stein untergebracht.
Mit der Überzeugung einer angehenden Journalistin
Lisa Rossiwall, damals Schülerin der HLW Amstetten, erinnert sich an den Tag vor 15 Jahren noch heute überdeutlich. „Es war kurz vor der ersten Schulstunde – Biologie, weiß ich noch. Je mehr Schüler die Klasse betraten, desto seltsamer wurde die Stimmung. Die, die aus Richtung Ybbsstraße gekommen waren, hatten Kurioses zu berichten: Irgendein Verbrechen soll nur wenige hundert Meter von unserer Schule entfernt geschehen sein. Die ganze Straße sei abgesperrt. Überall Journalisten! Sogar die BBC wollte eine Mitschülerin gesehen haben. Das ließ mich aufhorchen. Internationale Medien in Amstetten? Die BBC fußläufig von mir entfernt? Heute weiß ich nicht mehr genau, warum. Aber für mich war in dem Moment klar: Ich muss dahin! Wenn ich wirklich Journalistin werden wollte, dann durfte ich mir das nicht entgehen lassen. Während es zur Stunde läutete, schnappte ich mir meinen Rucksack, verkündete im Brustton der Überzeugung dem verdutzten Professor „Ich kann nicht bleiben, hier geht es um meine gesamte berufliche Zukunft!“ und eilte Richtung Ybbsstraße.“
„Hier war die Welt versammelt“
„Die Lage dort wirkte auf mich wie in einem Hollywood-Endzeit-Blockbuster. Die gesamte Straße war voll von Journalisten, die mittels Live-Schaltungen irgendetwas in Kameras erzählten. Ich sah den ntv-Moderator, der noch vor wenigen Tagen aus dem Fernseher zu mir gesprochen hat, fünf Meter von mir entfernt. Übertragungswägen mit riesigen Satellitenschüsseln. ORF, CNN, BBC, … Hier war die Welt versammelt. 600 Meter entfernt wurde ein Biologietest geschrieben. Und vor meinen Augen Kriminalgeschichte. Welcherart das monströse Verbrechen war, um das es hier eigentlich ging, drang zu diesem Zeitpunkt noch nicht in mein Bewusstsein. Wie berauscht von dem internationalen Medienaufgebot stand ich vor einer Absperrung. Plötzlich sprach mich eine Frau aus dem so abgegrenzten Medienbereich an. Ob ich hier wohne? Um ihr keine Hoffnung auf ein wertvolles Interview zu machen, sagte ich rasch: „Nein, nein – ich bin nur hier, weil ich so unbedingt Journalistin werden will.“
Spontan-Praktikantin bei Ulrike Wright
„Daraufhin winkte mich die Dame zu sich. Ich kletterte unter dem Absperrband durch und warum auch immer: Ab jetzt war ich so etwas wie eine Spontan-Praktikantin. Ulrike Wright, die heutige Chefredakteurin der Oberösterreicherin, nahm mich an diesem Tag ganz einfach mit. Zu Interviews. Zur Pressekonferenz, bei der sich die internationalen Journalisten stapelten. Ich weiß bis heute nicht, warum Ulrike Wright mich gerade an einem derart intensiven Tag so selbstlos unter ihre Fittiche genommen und mir einen so tiefen Einblick in die Welt von Journalisten ermöglicht hat. Ein Einblick, der ob der Einzigartigkeit dieses Verbrechens – hoffentlich – ein einmaliger bleiben wird. Und sie ermöglichte mir darüber hinaus dann tatsächlich meine ersten eigenen journalistischen Schritte. Der Bericht über die Inbetriebnahme einer neuen Ampel in Waidhofen/Ybbs im Sommer 2008 für die Oberösterreichische Rundschau war mein erster je veröffentlichter Artikel. Derer sollten unzählige folgen.“
Aufregendster Tag der gesamten – auch späteren – Berufslaufbahn
„Mein Berufswunsch hat sich also eindeutig erfüllt. Ich glaube fest daran, dass meine Entscheidung, an diesem Tag Biologie so dreist zu schwänzen, einen guten Teil dazu beigetragen hat. Nix für Ungut, Herr Professor! Danke Ulli! Das Entsetzen über das grausame Verbrechen stellte sich bei mir übrigens erst viele Tage später mit der schleichenden Realisierung ein. Der Tag selbst bleibt mir aus journalistischer Sicht hingegen als einer der aufregendsten meiner gesamten beruflichen Laufbahn in Erinnerung.“ Nach der HLW-Matura absolvierte Lisa Rossiwall die Fachhochschule für Journalismus und Medienmanagement in Wien. Nach Stationen bei der Filmproduktionsfirma Interspot, als Chefin vom Dienst und Redakteurin für die Zeitschriften Wiener, Besser und Reisemagazin sowie einem Ausflug in die PR-Abteilung eines Pharmaunternehmens hat sie sich 2016 mit ihrer Agentur Text-Projekt selbstständig gemacht.
Erinnerungen aus den eigenen Reihen
An die Tage rund um den Prozess im März 2009 erinnert sich Tips-Redakteur Norbert Mottas, der damals für den Bezirk Amstetten zuständig war: „Als der Prozess begonnen hat, sind wieder sehr viele Journalisten nach Amstetten gekommen. Josef Fritzl hat sich in allen Anklagepunkten schuldig bekannt – der Prozess ging rasch zu Ende. Die Journalisten mussten aber weiter Berichte liefern ...“ Und so wurde Norbert Mottas vom Interviewer zum Interviewten: „Als Lokal-Journalist war ich ein geeigneter Gesprächspartner – in diesem Fall für den Niederländischen Rundfunk, der mich zum Stand der Ermittlungen befragte, und darüber, warum gerade in Amstetten so eine schreckliche Tat geschehen konnte. Ich habe gesagt, dass Amstetten eine extrem soziale Stadt ist und dass solche furchtbaren Dinge überall passieren können. Das Interview konnte man eine zeitlang im Online-Radio hören. Ich habe übrigens auch einige Zeit vor Bekanntwerden des Inzest-Falles mit Josef Fritzl wegen eines geplanten Bauprojektes in der Waidhofner Straße telefoniert ... man kann echt nicht abschätzen, was in den Menschen steckt ...“, so Mottas.
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