Offener Brief des Betriebsseelsorgers Franz Sieder an Pamela Rendi-Wagner

Liebe Pamela!

Du hast an alle Mitglieder der SPÖ die Vertrauensfrage gestellt. Ich vermute, dass der Grund für diese eher sehr einsame Entscheidung darin liegt, dass du dir unsicher bist, ob wirklich die Partei hinter dir steht. Ich vermute auch, dass es eine kleine Clique in der SPÖ gibt, die einen Druck auf dich ausübt und dir vielleicht manche Entscheidungen aufzwingt. Wenn du weißt, dass der Großteil der Mitglieder hinter dir steht, dann kannst du dich von der Geißelhaft dieser Clique befreien.

Ich wünsche dir jedenfalls, dass du eine große Zustimmung bekommst und du daraus Kraft und Mut schöpfst deinen Weg zu gehen, den du gehen möchtest. Ich möchte dir einige Wünsche für deinen Weg mitgeben. Ich wünsche mir, dass die Konturen der SPÖ schärfer werden. Die SPÖ darf keine Allerweltspartei sein. Ich möchte einige dieser sozialdemokratischen Konturen benennen:

Die Sozialdemokratie soll in Österreich jene Partei sein, deren Hauptthema die soziale Gerechtigkeit ist. Die Sozialdemokratie soll jene Partei sein, die ganz bewusst auf Seite der Schwachen und Zukurzgekommenen unserer Gesellschaft steht und die eine klare Option für sie haben. Zu den Schwachen der Gesellschaft gehören auch die Ausländerinnen und Ausländer. Die Sozialdemokratie soll eine permanente Umverteilung von Reich zu Arm einfordern. Die Sozialdemokratie soll den Arbeiterinnen und Arbeitern das Gefühl geben, dass sie die privilegierte Schicht in der SPÖ sind. Die Sozialdemokratie soll auch den Mut haben, die Ungerechtigkeiten des neoliberalen kapitalistischen Wirtschaftssystems anzuprangern. Wenn du dann von manchen als „Kommunistin“ oder als „Linke“ beschimpft wirst, dann sollst du diese Beschimpfung ertragen. Wenn links heißt, auf Seite der Schwachen einzustehen, und wenn Links heißt, sich für ein Mehr an Gerechtigkeit einzusetzen, dann kann eine aufrechte Sozialdemokratin eigentlich nur eine Linke sein. Pamela, du bist eine hochbegabte Frau. Du hast auch eine ausgezeichnete Rhetorik. Du hast viele Voraussetzungen, um eine gute Bundesvorsitzende zu sein. Für eine Politikerin, für einen Politiker ist es auch ganz wichtig, dass sie sie ident ist. Unter ident verstehe ich, dass du das, was du den Menschen verkündest, auch selbst versuchst zu leben. Wir müssen glaubwürdig sein. Mit einem Porsche und mit einer teuren Rolex sind wir als Sozialdemokratie nicht mehr glaubwürdig,. Der berühmte Psychiater Erwin Ringel hat einmal gesagt: „Wenn ein Religionslehrer / eine Religionslehrerin, das was er / sie den Schülerinnen und Schülern verkündet, nicht selbst auch vorlebt, dann ist die ganze Verkündigung für die Katz. Ich bin katholischer Priester. Ich darf auch den Menschen das Evangelium nicht nur verkünden, sondern muss zumindest bemüht sein, es auch zu leben. Das Sozialistin/Sozialist-Sein  zu leben ist genau so schwer wie das Christin/Christ-Sein. Wir haben aber sehr vieles aber vieles gemeinsam. Es sagen daher viele Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Christentum und Sozialdemokratie (ACUS): „Weil ich Christ / Christin bin, deshalb bin ich Sozialdemokrat / Sozialdemokratin.“ Beide haben wir die Option für die Armen und beide sollen wir Kämpferinnen und Kämpfer für eine gerechtere Welt sein.

Pamela, ich weiß nicht, ob du in deinen Wurzeln eine Beziehung zu Gott und zur Kirche hast. Wenn du keine Beziehung haben solltest, dann bist du auf jeden Fall ein tief humaner Mensch, so wie es auch Bruno Kreisky war, der sich als Agnostiker bezeichnet hat. Ich bewundere alle Menschen, die eine tiefe Humanität leben obwohl sie nicht durch eine Gottesbeziehung dazu motiviert werden. Pamela, du hast die Parteiführung in einer schwierigen Zeit übernommen, du hast auch Durchhaltevermögen gezeigt, ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du in fünf Jahren die Bundeskanzlerin von Österreich bist.

Mit freundschaftlichen Grüßen Kaplan Franz Sieder