Was Corona in der Arbeitswelt verändert hat: Gespräche im BildungsZentrum Seitenstetten
SEITENSTETTEN. Jobverlust, Kurzarbeit, massive Umsatzeinbrüche. Das Coronavirus setzt die Wirtschaft unter Druck. Das BildungsZentrum St. Benedikt lud Experten aus der Region zum Gespräch.
Knapp 400.000 Menschen sind derzeit österreichweit arbeitslos gemeldet, etwa 300.000 Arbeitnehmer befinden sich in Kurzarbeit. Wie dramatisch die Situation ist, zeigen auch die Zahlen aus der Region. „Derzeit befinden sich etwa 9.000 Arbeitnehmer im Bezirk Amstetten aus zirka 400 Betrieben in Kurzarbeit. 2.500 Menschen sind arbeitslos gemeldet“, informiert Harald Vetter, Leiter des Arbeitsmarktservice (AMS) Amstetten.
„Mit nichts zu vergleichen“
„Grundsätzlich muss man sagen, dass der sogenannte Lockdown im Frühjahr mit nichts vorher zu vergleichen war. In einem normalen März sinken die Arbeitslosenzahlen etwas. 2019 waren im März 500 Menschen arbeitslos. Heuer waren es 3.620 Menschen“, blickt Vetter auf ein herausforderndes Frühjahr zurück.
AMS: „Alle Kapazitäten gebündelt“
Die Mitarbeiter in seiner Geschäftsstelle hätten „alle Kapazitäten“ gebündelt. „Unser Ziel war, dass es zu keiner Auszahlungsverzögerung kommt. Das haben wir geschafft. Meine Mitarbeiter haben Großartiges geleistet“, so Vetter.
Geringer Qualifizierte betroffen
Die Betriebe im Bezirk verzeichneten Vetter zufolge durch die Corona-Pandemie einen durchschnittlichen Umsatzrückgang von 20 bis 25 Prozent. Viele Arbeitnehmer seien abgemeldet worden. „Am meisten betroffen waren Leasingarbeiter, Menschen mit geringer Qualifikation, Migranten und Jugendliche. Vor allem für Letztere ist das Job-Einstiegs-Portal derzeit regelrecht verstopft“, meint Vetter.
700 offene Stellen im Bezirk
Derzeit gebe es im Bezirk zwar 700 offene Stellen. Gesucht würden aber zu zwei Drittel Menschen mit einem Lehrabschluss oder einem noch höheren Abschluss – vor allem Metall- und Elektrofacharbeiter.
Corona-Kurzarbeit
Dass die Corona-Kurzarbeit den Bezirk vor einer „unvorstellbaren Arbeitslosigkeit“ bewahrt hat, steht für Vetter außer Frage: „Im Bezirk haben wir etwa 44.000 Arbeitnehmer. Ende April 2020 waren davon 15.000 in 950 Betrieben in Kurzarbeit. Man bedenke: Während der Finanzkrise 2008/2009 waren 140 Betriebe in Kurzarbeit – niederösterreichweit“, so Vetter.
Wenn sich die Arbeitslosigkeit verfestigt
Nun sei es wichtig, dass die Kurzarbeit nicht zum Dauerstrukturmodell werde. „Wir werden im Winter auf 3.000 Arbeitslose im Bezirk kommen. Die Frage ist, wie sich die Arbeitslosigkeit verfestigt. Was ist mit der Langzeitarbeitslosigkeit? Von den 2.500 arbeitslos gemeldeten Menschen sind neun Prozent länger als ein Jahr arbeitslos. Niederösterreichweit sind dies 15 Prozent. Der Bezirks-Prozentsatz ist also okay, aber von gut sind wir noch weit entfernt“, erklärt Vetter.
Bündel an Maßnahmen
Bei Arbeitslosigkeit gibt es Vetter zufolge abgesehen von der Corona-Kurzarbeit ein „Bündel an Maßnahmen“. „So hat das AMS alle Fachkurse ausgeweitet, die es gibt. Das sind sehr gute Angebote am zweiten Bildungsweg. Außerdem ist es uns ein großes Anliegen, dass kein Jugendlicher länger als vier bis sechs Monate ohne Job oder Ausbildung ist“, betont Vetter und verweist hier auf die überbetriebliche Lehre. Diese können Jugendliche ohne Lehrplatz in Anspruch nehmen. Lehrherr ist das Wifi, das gemeinsam mit dem AMS Lehrbetriebe vermittelt. „Wir haben hier sehr gute Quoten“, so Vetter.
„Gute Möglichkeiten für fast alle Zielgruppen“
Weiters gebe es in Amstetten ein Jugendbildungszentrum, in dem man den Pflichtschulabschluss nachholen oder an Orientierungscamps teilnehmen könne, ein Frauenbildungszentrum oder auch Angebote für Langzeitarbeitslose, wie Transjob und Unida-Services. „Es gibt hier für fast alle Zielgruppen gute Möglichkeiten“, lädt Vetter ein, sich zu informieren.
Blick in die Zukunft
Der AMS-Geschäftsstellenleiter wirft auch noch einen Blick in die Zukunft: „Da kommt noch einiges auf uns zu. Ein Großteil der Betriebe in der Region hat eine schwache Eigenkapitalstruktur. Drohende Insolvenzen wurden durch die Kurzarbeit auf 2021 geschoben. Man wird vier Jahre brauchen, um wirtschaftlich gesehen auf Vorkrisen-Niveau zu kommen“, so Vetter.
Betriebsseelsorge
Die Mostviertler Betriebsseelsorgerin Katharina Karl war ebenfalls eingeladen, über ihre Arbeit während der vergangenen Monate zu sprechen. „Betriebsseelsorge arbeitet stark individuell für die Menschen in den Betrieben“, erklärt Karl. Normalerweise arbeitet die Mostviertlerin auch acht Wochen pro Jahr in Firmen mit, um die Arbeit, das Gefüge, die Gruppen kennenzulernen.
„Direkte Seelsorge über Wochen komplett weg“
„Durch Corona hat sich das sehr verändert. Es waren in der ersten Zeit keine Besuche mehr möglich. Meine Arbeit lief auf einer sehr informativen Ebene ab. Das Zwischenmenschliche, die direkte Seelsorge war über Wochen komplett weg“, erinnert sich Karl. Der Kontakt habe sich verloren, Karl war es nicht mehr möglich, ein direktes Stimmungsbild aus den Betrieben zu erhalten.
Veränderte Rahmenbedingungen
„Im Sommer konnte ich wieder in die Betriebe kommen. Natürlich mit veränderten Rahmenbedingungen: Testungen, Fiebermessen, Anmeldungen. Das ist alles eine zusätzliche Schwelle, wenn man mit Menschen in Kontakt treten möchte“, erklärt die Seelsorgerin.
Kontroverse Diskussionen in Betrieben
Bei ihren Besuchen erkennt Karl, dass viele Themen – auch das Coronavirus betreffend – sehr kontrovers diskutiert würden. Bei Arbeitskollegen, die sich normalerweise sehr gut verstünden, sei zum Teil auch Aggression im Gespräch spürbar. „Allgemein ist zu sagen, dass die Gespräche mit den Arbeitnehmern sehr individuell sind und momentan auch viel tiefer gehen. Nun hoffe ich, dass ich die Leute wieder besser und schneller erreichen kann. Wir sind in dieser Situation alle nur Passagiere. Wir werden sehen, wie es weitergeht“, so Karl.
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