Paraclimbing-Vizeweltmeisterin Edith Scheinecker: „Wir sind nicht behindert, sondern werden von der Gesellschaft behindert“
ENNS. Edith Scheinecker aus Enns ist Kletterin und Mitglied im Nationalteam der Paraclimber. Bei der WM in Moskau im September wurde sie Vizeweltmeisterin.
Paraclimbing wird von Sportlern mit körperlicher Beeinträchtigung ausgeübt. Edith Scheinecker klettert in der Kategorie der visuell Beeinträchtigten in der Klasse B2 – den hochgradig Sehbehinderten. „Im österreichischen Nationalteam sind wir acht Paraclimber. Ich bin die einzige visuell beeinträchtigte Kletterin. Die meisten sind ehemalige Unfallopfer und kamen so zum Sport“, erzählt die 54-Jährige. Im Alter von 27 Jahren wurde bei ihr die Krankheit Zapfen-Stäbchen-Dystrophie diagnostiziert. Dabei kommt es schubweise zu einem starken Verlust der Sehschärfe. „Ich habe eine Art Tunnelblick. Alles, was ich sehe, setzt sich wie aus einzelnen Pixeln zusammen“, erklärt sie. Eine Heilung gibt es nicht. Irgendwann wird Scheinecker ganz erblinden. Die Krankheit vererbt sich auf die Kinder. Auch Tochter Theresa und Sohn Matthias sind schon fast vollständig blind.
Sport trotz Sehbehinderung
Zum Klettern kam Edith Scheinecker erst vor vier Jahren. „Ich war mit meiner Tochter in der Kletterhalle Auwiesen. Dort hat mich der Geschäftsführer entdeckt. Danach bin ich gleich nach Salzburg zum Nationalteam gefahren“, berichtet sie. Paraclimbing ist ein Leistungssport und sehr trainingsintensiv. Scheinecker trainiert drei bis vier Mal die Woche in Linz und manchmal mit Nationalmannschaftskollegen in Graz. Das Trainingslager findet in Innsbruck statt. Das Klettern als hochgradig Sehbehinderter läuft wie folgt ab: Der Trainer sagt dem Sportler per Funkgerät die zu kletternde Route an, wobei er Hinweise wie „rechte Hand auf 11 Uhr“ oder „linker Fuß in Wadenhöhe“ gibt. Ähnlich ist es bei Bewerben, die in fremder Umgebung stattfinden. „Wenn wir in einem Hotel ankommen, erklärt mir mein Trainer Marco, wie mein Zimmer aussieht. So kann ich mich besser orientieren“, sagt sie. Auch sonst ist Scheinecker sehr sportlich. Mit dem Zug fährt sie ganz alleine zum Schwimmen ins Hallenbad oder zum Mountainbiken in die Berge. Um die Sturzgefahr zu verringern, übt sie Letzteres nur auf gut bekannten Wegen aus.
Heuer drei Weltcup-Siege
Das harte Training macht sich bezahlt. 2019 holte Scheinecker bei der WM in Briancon (Frankreich) die Bronzemedaille. Aufgrund ihrer guten Leistungen im heurigen Jahr (2x Gold bei den Weltcups in Innsbruck und Briancon) wurde sie für die WM in Moskau nominiert, wo sie Silber holte. Im Oktober ging es nach Los Angeles zum dritten und letzten Weltcup der Saison, wo sie sich ebenfalls über den ersten Platz freuen durfte. Bei den Paralympics in Tokio war keine Teilnahme möglich, da Paraclimbing im Gegensatz zum Klettern noch nicht olympisch ist.
Fehlender Nachwuchs
„Der Behindertensport ist heutzutage auf sehr hohem Niveau und nicht mehr mit früher zu vergleichen“, sagt sie. Schade sei jedoch, dass Sport mit Beeinträchtigung in der Gesellschaft noch immer nicht angekommen sei und in der medialen Berichterstattung zu kurz komme. „Wir sind nicht behindert, sondern werden von der Gesellschaft behindert“, meint Scheinecker, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung im täglichen Leben immer wieder negative Erfahrungen machen muss. Die mangelnde Wertschätzung sei auch daran zu erkennen, dass die Nachwuchsarbeit vom Kletterverband stark vernachlässigt werde. Derzeit nehmen nur zwei Frauen an der österreichischen Meisterschaft im Paraclimbing teil. Da die Paraclimber dringend Nachwuchs suchen, versuchen die Sportler auf verschiedenen Wegen auf sich aufmerksam zu machen. Scheinecker plant, in Blindenschulen zu gehen. „Eigentlich sollte die Nachwuchsarbeit nicht an den Para-Athleten hängen bleiben. Ich will zeigen, dass Sport mit Beeinträchtigung möglich ist“, sagt sie.
Tipp: YouTube IFSC Paraclimbing World Cup Los Angeles 2021 (Edith Scheinecker ist ab Minute 31:26 zu sehen)
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