
LINZ. Zu seinem 50. Geburtstag gönnt sich Tabakfabrik-Direktor Chris Müller ein neues Leben als Reisender, Autor, Unternehmer und Berater. Am 1. Mai ist „Tag der neuen Arbeit“, wie er sagt: Tips hat mit ihm über seine Biographie, künftige Pläne, Linz und über ein Buch, das vielleicht gar kein Buch wird, gesprochen.
Wie bereits angekündigt, startet Chris Müller ab Herbst mit Lesungen zu seinem Text „Achtet auf die Möwen“. Beim Gespräch mit Tips in seinem neuen Büro holt er das Manuskript dazu, eingewickelt in braunes Papier, hervor. Er komme immer mehr darauf, dass es keine klassische Buchform sein kann, sagt er. Er wolle durch die Haptik vermitteln, dass es kein Buch sei, sondern ein Abenteuerbericht.
„Ich war schon in Rente“
Vor allem aber sei ihm wichtig, jene zu erreichen, „die gerade ins Leben starten, denen es ähnlich gegangen ist wie mir oder einer Million anderen Menschen auch.“ Das System sei darauf ausgerichtet, sich schnell für einen Lebensweg zu entscheiden und dann in Rente zu gehen, sagt Müller. „Bei mir war es umgekehrt: Ich habe die ersten zehn Jahre nichts gemacht und war schon in Rente.“ Diese Findungsphase hält er für wichtig, sie sei einer seiner Erfolgsfaktoren gewesen. Auch seine Kinder sollen diese Möglichkeit haben.
Eine selbstironische Antiheldengeschichte
Er selbst sei von einem Ereignis zum anderen gestolpert, von Begegnung zu Begegnung. „Erst im Nachhinein sieht man dann, das war die Person, der eine Satz, der Raum, der dich zu dem geführt hat, der du bist.“ Diesen Weg soll der Text nachzeichnen, in Form einer selbstironischen Antiheldengeschichte. Der Text startet mit einem 18-jährigen Chris Müller, der nach einer Mandeloperation nach Griechenland „flieht“, und dort einige Zeit ohne konkreten Plan verbringt. Dort lernt er eine deutsche Punkrockerin kennen, der er verliebt nach Berlin folgt.
Berlin der 90er: Stadt der Glücksritter
Und plötzlich tut sich eine neue Welt auf, eine Stadt voller „Glücksritter“: „Ich war schlecht in der Schule und habe dann Tischler und Treppenbauer gelernt. Der Umbruch in der Stadt war der Umbruch in mir. Darum bin ich Berlin so verbunden.“ Sein Job als Stagehand führt ihn durch Skandinavien, ein Wendepunkt kommt, als er zurück in Berlin ist. Seine Freundin nimmt ihn mit nach Hause, in ein reiches Viertel am Wannsee. Es sei ein Erweckungserlebnis gewesen, das sich ausgerechnet dieser als dogmatisch vermutete Haushalt als „Hub“, als „kleine Tabakfabrik der guten Hoffnung“ herausstellt, wie Müller sagt.
„Mach das, das schaffst du sicher“
Zum ersten Mal habe er dort Menschen getroffen, die sagten „Mach das, das schaffst du sicher“, wenn man ihnen von seinen Träumen erzählte. „Da habe ich gemerkt: Ich bin der Dogmatische. Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, ich kann etwas und ich werde es auch machen“, erzählt Müller. Was genau, wusste er damals noch nicht, nur dass es „unglaublich“ wäre, von Kreativität leben zu können. Später kam er - durch Zufall, wie er sagt - zum Kunststudium an die Kunstuniversität Linz. Die Aufnahme an der Uni sei ein weiterer entscheidender Punkt gewesen, wie auch die Anfrage, die zum Aufbau des Theaters Hausruck führte.
„Ich bin immer gut ganz am Anfang“
„Ich habe gemerkt: Ich bin immer gut ganz am Anfang, bringe mich immer zu 150 Prozent ein“, sagt Müller, und die Entwicklung der Tabakfabrik gibt ihm recht. Zu Beginn schlief er dort am Areal, arbeitete rund um die Uhr. Die „5000 verschiedenen Jobs“, die Müller davor hatte, in denen er aber nie die Erfüllung fand, stellten sich dabei als äußerst hilfreich heraus: „Auf einmal habe ich alles gebraucht: den Tischler, den Treppenbauer, den Asbestentsorger, die Musik für Veranstaltungen, die Kommunikation… das wäre ohne mein Vorleben nicht möglich gewesen.“
War es Glück, Fleiß, der Lebensweg, die Menschen, die an ihn glaubten? Es sei alles zusammen, meint Müller, man müsse selbst an sich glauben und brauche auch andere die das tun. Fleißig und diszipliniert sei er, bis heute, aber er sei Unternehmer, „weil ich etwas unternehmen will“ – und völlig untauglich als Angestellter, wie ein Freund ihm einmal sagte. Für diejenigen, denen es ähnlich ginge, die noch nicht genau wissen, wohin die Reise führt, für die sei das Buch, das vielleicht kein Buch wird.
Urban Miner und Chief Visionary Officer
Was er als Nächstes in Angriff nehmen will? Ihn beschäftige, wie sich die Veränderung einer Gesellschaft in Immobilien ausdrücke, „im Sinne von Urban Mining“. Und welches Projekt würde ihn interessieren, wenn er unbegrenzte Mittel und freie Hand bekäme? „Es gäbe eine Stelle, die mich interessiert: 'Chief Visionary Officer'. So eine Position haben zum Beispiel Technologie-Firmen, das was ich auch hier bei CMb. Industries mache, das würde mich auch für Städte interessieren. Das ist eine längere philosophische Begleitung, es geht darum, weiter in die Zukunft zu schauen. Wenn es dafür ein Areal wie die Tabakfabrik gäbe, bin ich gern dabei.“
„Die Liebe gilt schon Linz“
Mit Linz ist Müller nicht nur durch die Tabakfabrik verbunden: „Die Liebe gilt schon Linz.“, sagt er, hier sei es seiner Familie gut gegangen, er könne nichts Negatives sagen. „Ich bin froh, diesen Ort gehabt zu haben, auch in schwierigen Phasen. Auch wie gut es mit dem Bürgermeister funktioniert hat, wir haben immer ehrlich diskutiert.“ In der näheren Zukunft möchte er sich aber nicht wieder sofort so stark an einen neuen Ort binden, und reisen.
Tips will von Müller wissen, was man seiner Meinung nach in Linz noch verbessern könnte. „Man kann und sollte viel verbessern, man kann viel nörgeln, aber wenn man sich mit anderen Städten vergleicht, kann man dankbar sein, hier leben zu können.“ Dinge wie die Badebucht sollten aus seiner Sicht funktionieren, es müsse ja kein entweder oder sein. Was er schön fände, in Linz hinzubekommen: „Die ganzen Nervositäten ablegen, das Gegeneinander, das Vereinzeln, das Fragmentieren.“ Die entscheidende Frage sei: „Wie können wir Linz gemeinsam zu dem Ort machen, der es jetzt noch nicht ist, und die Zeit nutzen, um gemeinsam etwas weiterzubringen das wir weitergeben können - im Sinne einer Generationengerechtigkeit.“
„Gute Walfänger schauen nicht, wo der Wal auftaucht, sondern auf die Möwen“
Zum Schluss des Gesprächs kommt Tips noch einmal auf „Achtet auf die Möwen“ zurück. Was hat es mit dem Titel auf sich? Im Text taucht der Literaturklassiker „Moby Dick“ öfter auf, „weil Weggefährten von mir immer wieder diesen Roman zitiert haben.“ Der Roman von Herman Melville sei bei Diskussionen immer wieder vorgekommen und hat Müller nun zum Titel seiner Abenteuererzählung inspiriert: „Gute 'Walfänger' oder Menschen, die Neues erkennen, schauen nicht, wo der Wal auftaucht - oder der Trend - sondern auf die Möwen. Weil die Möwen wissen, wann der Wal auftaucht. Dieses holistische Beobachten einer Gesellschaft, einer Industrie, dass ist es, was mich interessiert.“ „Die wahren Orte“, schrieb Melville in Moby Dick, seien „auf keiner Karte verzeichnet. Die wahren Orte sind das nie.“ Das sei deswegen, weil sie gerade erst entstehen, meint Chris Müller.