„Wer sind wir, Kindern nicht zu glauben?“ – Liz Wieskerstrauch mit Dokumentarfilm zu organisierter und ritueller Gewalt in Linz
LINZ. „Das Wissen um rituelle Gewalt muss in der Gesellschaft ankommen. Nur was ich kenne, kann ich auch sehen. Das ist Voraussetzung für frühzeitige Prävention und Hilfe für die Betroffenen“, so Andrea Pata-Kölblinger, ehemalige Therapeutin des gemeinnützigen Vereins PIA in Linz, im Interview mit Tips. Am 17. Oktober wurde im Moviemento der neue Dokumentarfilm „Blinder Fleck“ der deutschen Regisseurin Liz Wieskerstrauch zu ritueller und organisierter Gewalt an Kindern erstmals in Linz gezeigt.
Der preisgekrönte Dokumentarfilm „Blinder Fleck“ von Liz Wieskerstrauch, der am 23. April in Bremen Premiere feierte und am 17. Oktober im Beisein der Regisseurin im Moviemento in Linz gezeigt wurde, beleuchtet das Tabuthema rituelle und organisierte Gewalt an Kindern. Sensibel, eindringlich und ohne schockierende Bilder, wie betont wird. In Gesprächen mit Betroffenen, Psychotherapeuten, Ermittlern und Experten macht der Film sichtbar, was viele nicht wahrhaben wollen: Gewaltstrukturen, die oft im Verborgenen bleiben.
Betroffene schildern Unvorstellbares
Man denke gerne, diese schlimmen Dinge passieren irgendwo weit weg. Leider gebe es auch in Oberösterreich, in Stadt und Land Betroffene, die sich ihren Therapeuten anvertrauen, so Andrea Pata-Kölblinger, ehemalige Therapeutin des gemeinnützigen Vereins PIA in Linz, der den Film „Blinder Fleck“ unterstützt.
Im internationalen Vergleich werde in Österreich sexualisierte Gewalt in organisierten, rituellen Strukturen kaum wahrgenommen. Daher sei der Kinofilm „Blinder Fleck“ von Liz Wieskerstrauch ein erster wichtiger Schritt, dieses Thema auch in Oberösterreich sichtbar zu machen, so Pata-Kölblinger.
Ein Kind, das einer Kriminalbeamtin seine traumatischen Erlebnisse schildert. Ihr Vater hätte sie fremden Männern übergeben, die sie anschließend immer wieder auf die gleiche Art und Weise missbraucht hätten.
Die Mutter, die von Bauchschmerzen, den Albträumen ihres Kindes und dem vergeblichen Versuch erzählt, Ermittlungen in die Wege zu leiten.
Psychologen, die über die komplexen psychologischen Vorgänge während einer Traumaerfahrung aufklären. Kriminalisten, die die Schwierigkeiten aufzeigen, Beweise von ritueller und organisierter Gewalt zu sammeln. All diese Perspektiven werden im Dokumentarfilm „Blinder Fleck“ aufgezeigt.
Was ist rituelle Gewalt?
Sexualisierte Gewalt in organisierten, rituellen Strukturen sei eine Form von sadistischer, geplanter Gewalt, die systematisch in Netzwerken ausgeübt werde, so Pata-Kölblinger. Betroffene würden in der Regel seit früher Kindheit von einer Vielzahl von Tätern extreme sexuelle, körperliche und psychische Gewalt erleben.
Die Familie spiele dabei in den meisten Fällen eine zuführende und destruktive Rolle. „In der Regel sind die Familien- und somit auch die Betroffenen selbst- durch Ideologien in das Netzwerk/die Organisation eingebunden.“
Laut dem Kinderschutzzentrum Wien (2022) sind in Österreich etwa neun Prozent der Mädchen und rund vier Prozent der Buben von mittelschwerem bis schwerem sexuellen Missbrauch betroffen. Trotz hoher Betroffenheit stellt dieses Thema nach wie vor ein Tabu dar. Statistiken zu ritualisierter Gewalt wurden bisher keine veröffentlicht, den Terminus gebe es offiziell gar nicht, zumindest im Strafrecht nicht.
Das Problem hinsichtlich Beweisen
Der Film zeigt, dass vor allem die Täterstrukturen im Verborgenen bleiben, während Missbrauchsdarstellungen regelmäßig im Internet gefunden werden, dessen Opfer ein Leben lang leiden. Das liege schon in der Natur der Sache, betont Pata-Kölblinger. Betroffene würden aus Angst um ihr Leben schweigen. „Sie haben miterleben müssen, welch grausame Bestrafung Verräter erfahren.“ Die systemische Anwendung von traumatisierender Gewalt könne zu Dissoziation bis hin zur Aufspaltung von kindlichen Persönlichkeiten in multiple Persönlichkeitsanteile führen.
Mehr zum Thema: Gewalt in den eigenen vier Wänden: „Verdrängung ist häufig eine Überlebensstrategie“
Diese Aufspaltung ermögliche einerseits das Überleben der gequälten Kinder, verhindere andererseits, dass sie bei kriminalpolizeilichen Ermittlungen zusammenhängende Aussagen machen könnten und von daher, ihre Glaubwürdigkeit infrage gestellt werde. Ermittlungen würden in den meisten Fällen eingestellt werden, da Schilderungen oft verschwommen seien. In der Justiz gebe es zudem den Straftatbestand „Rituelle Gewalt“ noch gar nicht. „Im juristischen Sinn ist rituelle Gewalt noch nicht nachgewiesen“, so Pata-Kölblinger.
Auch im Dokumentarfilm erzählen die Opfer davon, dass sie zum Teil lange Zeit keinen Zugriff auf das Erlebte gehabt hätten. Das implizite Gedächtnis schütze vor Bildern aus der Vergangenheit, man würde an dem Erlebten sonst zerbrechen.
Existenz für möglich halten
Aus diesem Grund sei es wichtig, dass es Aufklärungsfilme wie „Blinder Fleck“ gebe. „Es braucht eben Zeit, bis die Wirklichkeit in die Gesellschaft hineinsickert und den blinden Fleck beiseiteschiebt. Ich hoffe, dass in Oberösterreich/Österreich zu dieser Gewaltform ein Prozess angestoßen wird, der Personen in Justiz, Exekutive, Therapie, Beratungsstellen, pädagogischen Berufen und Medizin sensibilisiert, vernetzt und handlungsfähig macht.“
Es sei notwendig, dass die Existenz ritueller Gewalt für möglich gehalten werde, damit sich Betroffene in der psychosozialen und therapeutischen Praxis gehört fühlten und adäquate Unterstützung bekommen würden. Entscheidungsträger in Politik und Institutionen müssten die notwendigen Mittel und Strukturen bereitstellen, um Aufdeckung und Ausstieg, Zuflucht, Schutz, größtmögliche Sicherheit und Unterstützung von Betroffenen und für Betroffene möglich und überhaupt denkbar zu machen, betont Andrea Pata-Kölblinger.
Das Rechtssystem müsse Traumapsychologie berücksichtigen. „Wer sind wir denn, Kindern nicht zu glauben?“ Im oben geschilderten Fall des Kindes, das zuerst seiner Mutter und später der Kriminalisten von seinem Erlebten erzählt, wurden die Ermittlungen eingestellt. Die Staatsanwältin verweigerte aufgrund der Schilderungslücken eine Hausdurchsuchung bei dessen beschuldigten Vater. Stattdessen wird die Mutter verdächtigt, dem Kind Bilder in den Kopf gesetzt zu haben.
Aufarbeitung des Erlebten
„Der therapeutische Prozess mit den Opfern erstreckt sich meist über viele Jahre. Zu Beginn der Therapie werden komorbide Störungen wie Angststörungen, Sucht, Essstörungen, Depressionen, Selbstverletzung und Bindungsstörungen thematisiert und Lösungswege gesucht. Es wird nachgefragt, ob es noch Täterkontakt gibt und es dadurch noch zu Gewalt und Missbrauch kommt. Wenn ja, wird der Ausstieg aus destruktiven Beziehungen unterstützt.“
Nach einer Stabilisierungsphase, in der die Klientin ausreichend Fähigkeiten im Umgang mit belastenden Gefühlen und eine wertschätzende Kommunikation ihrer Persönlichkeitsanteile untereinander gelernt habe, könne mit Hilfe traumaspezifischer Methoden ein Verarbeitungs- und Heilungsprozess beginnen, so Pata-Kölblinger.
-----------------------
Das Interview wurde vom Therapeutenteam des Vereins PIA gemeinsam mit Frau Andrea Pata-Kölblinger (ehemalige PIA-Therapeutin) beantwortet. PIA unterstützt den Film „Blinder Fleck“ und engagiert sich seit fast 30 Jahren für Betroffene sexualisierter Gewalt und in der Präventionsarbeit.
Wenn Hilfe nötig ist, anonym, rund um die Uhr, kostenlos
- Polizeinotruf 133
- Frauen-Helpline: 0800 222555
- Gewaltschutzzentrum OÖ: Tel. 0732 607760, E-Mail ooe@gewaltschutzzentrum.at
- Krisenhilfe OÖ: 0732 2177
- Frauenberatung OÖ, www.frauenberatung-ooe.at, hier sind auch alle Kontakte zu den Frauenhäusern in Oberösterreich zu finden.
- PIA: Prävenation, Beratung und Therapie bei sexueller Gewalt: Tel. 0732 650031, E-Mail: office@pia-linz.at
- Autonome Frauenhäuser in Oberösterreich: www.aoef.at
- Telefonseelsorge: 142
- Opfer-Notruf: 0800 112 112
- Männerberatung: 0800 400 777
- Männernotruf: 0800 246 247
- Helpchat.at
- Rat auf Draht: 147
- Weißer Ring – Verbrechensopferhilfe, Büro OÖ: Tel. 0699 13434015, E-Mail: ooe@weisser-ring.at
- StoP – Stadt ohne Partnergewalt Linz, https://stop-partnergewalt.at/, E-Mail: linz@stop-partnergewalt.at
Kommentare sind nur für eingeloggte User verfügbar.
Jetzt anmelden