Luna Al-Mousli: „Gratis arbeiten muss man sich erst einmal leisten können“
LINZ/OÖ. Was vom Beklatschen unserer Systemerhalter übrigbleibt, fragt die Autorin und Grafikdesignerin Luna Al-Mousli in ihrem neuen Buch „Klatschen reicht nicht – Systemheld*innen im Portrait“. Bevor sie am Montag, 25. September, im Kepler Salon in Linz liest, hat sie Tips zu einem Gespräch über Herausforderungen in systemrelevanten Berufen, zu möglichen Lösungsansätzen und kostenlosen Praktika getroffen.

Tips: Wie ist die Idee für dein Buch „Klatschen reicht nicht – Systemheld*innen im Portrait“ entstanden?
Al-Mousli: Ich bin von Menschen in systemrelevanten Berufen umgeben. Meine jüngere Schwester ist Kindergartenpädagogin und arbeitet 40 Wochenstunden. Die hat es wirklich schwer. Normalerweise müssten es immer zwei Aufsichtspersonen sein, die in der Gruppe sind. Dennoch war sie oft alleine und es kamen immer wieder Regelungen, die dem Alltag nicht entsprechen. Viele Politiker haben keine Erfahrung im Berufsleben. Die denken zum Beispiel, dass es sich ausgeht, dass meine Schwester jedes Kindergartenkind hinausbringt, damit die Eltern nicht hineinkommen. Oder dass sie jede Stunde allen 21 Kindern die Hände waschen soll. Da kann sie nur mehr auf dem Klo bleiben. Dann soll sie auch noch alle Flächen desinfizieren. Politiker sollten sich mit diesen Menschen zusammensetzen und auf deren Expertise hören.
Ich denke, dass es wichtig ist, dass mein Buch nicht nur Erwachsene lesen. Es kann super in der Schule gelesen werden. Es hat Illustrationen von Clara Berlinski, Statistiken und Expertinnen, die ihre Beiträge geschrieben haben. Entweder man ist selbst betroffen, kennt jemanden oder bekommt zumindest mehr Verständnis, wenn es an der Supermarktkasse nicht so schnell geht. Das Buch soll zur Selbstreflexion dienen, wie man mit diesen Menschen umgeht.
Tips: Wie findest du persönlich den Begriff systemrelevant? Heißt das nicht zugleich, dass auf bestimmte Berufe für eine gewisse Zeit verzichtet werden kann, weil sie nicht systemrelevant sind?
Al-Mousli: Ich glaube nicht, dass man auf etwas ganz verzichten kann, sondern dass man schon alles braucht. In manchen Bereichen musste man aber mehr Einsatz zeigen, zum Beispiel vor Ort sein und sein Leben riskieren. Man gefährdet nicht nur sich, sondern auch Familienmitglieder mit Erkrankungen zu Hause. Die riskieren durch ihre Kontakte mehr. Allerdings braucht es trotzdem mehr wie Menschen, die vom Homeoffice aus schauen, dass die Energie und der Strom laufen, die Logistik machen. Ohne das wäre schon vieles schiefgegangen, die Leute wären hysterisch geworden.
Tips: Du hast für dein Buch unterschiedliche Menschen in systemrelevanten Berufen portraitiert. Was ist dir dabei besonders in Erinnerung geblieben?
Luna Al-Mousli: Die Menschen selbst, ihre Geschichte, Offenheit. Manche habe ich gekannt oder ich wurde vermittelt. Insgesamt waren die Gespräche sehr herzlich und ehrlich. Ich habe Parallelen erkannt, egal in welchem Beruf sie tätig sind. Trotz der Probleme haben die Menschen Lebenslust und machen ihren Beruf gerne, auch wenn es anstrengend und unterbezahlt, psychisch und körperlich herausfordernd ist.
Ich habe glaube ich auch einen guten Schnitt erwischt. Ich habe 20 Portraits, mehr als die Hälfte sind Frauen. Ich habe mir nicht vorgenommen, dass ich vor allem Frauen und Migrantinnen portraitieren möchte, aber das ist ein Spiegelbild. 65 Prozent der Menschen in systemrelevanten Berufen sind Frauen, auch Migrantinnen.
Tips: Hast du weitere Gemeinsamkeiten zwischen den portraitierten Personen erkannt?
Al-Mousli: Das Alter ist sehr unterschiedlich. Manche sind in ihren 30ern, andere in den 40ern, 50ern oder kurz vor der Pension, wenn sie bereits lange in ihrem Beruf arbeiten. Spannend finde ich, dass jemand, der seit sechs Jahren in dem Beruf ist, dasselbe berichtet wie jemand, der in ein oder zwei Jahren in Pension geht. Die Lebenssituation ist auch unterschiedlich. Manche leben alleine, andere mit ihrer Familie, in einer WG oder in einem Heim sogar.
Tips: Was sind die größten Herausforderungen für Menschen in systemrelevanten Berufen?
Al-Mousli: Personalmangel ist ein Problem, weil immer weniger Menschen diesen Berufen nachgehen. Je weniger Personal da ist, desto mehr steigt der Druck pro Person. Die Zeit fehlt dann zum Beispiel für Gespräche. Manchmal muss man schlechte Nachrichten lassen, wie sie sind, weil man eine gewisse Zahl an Klienten oder Patienten hat. Dadurch geht Menschlichkeit verloren, es wird eine Abfertigung.
Systemrelevante Berufe sind außerdem schlecht bezahlt und haben schlechte Arbeitsbedingungen. Ich denke, dass man all diese Berufe aufwerten müsste. In Niederösterreich hatten sie ja zu wenige Kindergartenpädagoginnen und haben dann noch nicht fertig ausgebildete Pädagoginnen eingesetzt. Das ist schon ein Problem, wenn man da einfach so Verantwortung übergibt. Auf gesellschaftliche Umstände wird auch zu wenig Rücksicht genommen. Alleinerziehende brauchen andere Grundbedingungen als noch vor 30 Jahren, wo es andere Familienmodelle gab. In den vergangenen 1,5 Jahren wurde vieles nicht mitgedacht. Eine portraitierte Heimhelferin hat einen 13-jährigen Sohn und ist alleinerziehend. Er hatte keine Schule und sie wollte ihn auch nicht zu den Großeltern geben, weil sie selbst viele Kontakte hat. Das neben der Arbeit zu managen ist nicht so einfach. Da fühlen sich glaube ich ganz viele allein gelassen. Die Politik geht von einem Familienmodell aus, das nicht unserer heutigen Lebensrealität entspricht. Meistens gehen beide Partner arbeiten, oft einfach, um sich das Leben leisten zu können.
Tips: Zum Personalmangel: Es ist immer wieder zu hören, dass bereits mit zu wenig Krankenhauspersonal in die Pandemie gegangen wurde. Was ist dein Eindruck?
Al-Mousli: Ja, den gab es schon vorher. Die Pandemie hat es nur stärker gezeigt, weil alle so ausgebrannt waren. Wenn es einen Verdachtsfall gegeben hat, ist es noch viel prekärer geworden: zu Hause sein, auf das Testergebnis warten. Andere Menschen sind ebenfalls ausgefallen, weil sie in Quarantäne mussten. Für dasselbe Kontingent an Patienten stand nur mehr das halbe Personal zur Verfügung oder sie mussten zusätzliche Schichten schieben, weil die anderen nicht kommen konnten.
Oft heißt es ja, dass wir so viele Arbeitslose hätten. Man muss sich aber vielleicht die Fragen stellen, wieso immer weniger Menschen diesen Berufen nachgehen und was wir tun, wenn es niemanden mehr gibt. Oder wenn eine ganze Schule schließt, weil sich alle Lehrkräfte umorientieren.
Tips: Sind systemrelevante Berufe die, wo kaum Homeoffice möglich war und ist?
Al-Mousli: Mir kommt vor, dass das oft miteinander einhergeht. Kinder lassen sich über Zoom zum Beispiel nicht betreuen. Oft ist hier Menschennähe grundlegend. Es ist ja erwiesen, dass es vielen Menschen schlechter ging, weil sie weniger soziale Kontakte hatten. Menschen, die psychische Erkrankungen haben und während der Einschränkungen keinen Besuch mehr bekamen, ist es schlechter gegangen, obwohl sie zuvor Fortschritte gemacht haben. Manche sind gar an Einsamkeit gestorben.
Tips: Wie soll die Politik auf Herausforderungen wie Personalmangel und Vereinbarkeitsprobleme reagieren?
Al-Mousli: Es ist egal, wo sie beginnen. Bei Kindergärten sollte zum Beispiel geschaut werden, woran es liegt, dass wenige dort arbeiten wollen. Ich denke, dass sie mehr Geld lockermachen könnten. Das könnte etwa durch eine Reichensteuer oder mehr Steuern für Unternehmen geschehen.
Unbezahlte Praktika sind auch so eine Sache. Derzeit ist im Studiengang Gesundheits- und Krankenpflege ein halbjähriges, unbezahltes Pflichtpraktikum mit 40 Wochenstunden zu absolvieren. Die Menschen werden statt Vollzeitstellen eingesetzt und müssen sehr viel Verantwortung tragen und Entscheidungen treffen. Viele müssen neben der Ausbildung arbeiten gehen, um sich das überhaupt leisten zu können. Nicht alle haben reiche Eltern. Da frage ich mich schon, von welcher Gesellschaft Politiker ausgehen. In meinem Umfeld mussten alle arbeiten gehen, um zur Universität zu können. Alternativ müsste man in den Jahren zuvor viel arbeiten und sich vieles auf die Seite legen, um sich gratis arbeiten leisten zu können.
Tips: In den vergangenen Monaten ist immer wieder über die Arbeitsbedingungen von Krankenhauspersonal oder Verkäuferinnen diskutiert worden. Hast du den Eindruck, dass nicht alle systemrelevanten Berufe dieselbe Aufmerksamkeit bekommen?
Al-Mousli: Ja, auf jeden Fall. Natürlich war Krankenpflege im Fokus und das ist auch gut so. Aber es gibt so viel mehr wie Reinigungskräfte und Lieferanten. Auch mein Buch portraitiert nicht alle. Wir haben versucht, so viele wie möglich zu Wort kommen zu lassen. Ich habe das Gefühl, dass es immer eine bestimmte Gruppe gibt, über die viel gesprochen wird, weil das thematisch zum Beispiel gut zur Pandemie passt. Aber es wird auch die Bildungsfrage neu aufgerollt: Wie sieht es mit den Lehrkräften aus? Die Kindergartenpädagoginnen sind da irgendwie dazwischen gerutscht. Keiner kümmert sich darum, dass es auch da gute Regelungen gibt. Bei Maßnahmen hat man immer den Kindergarten vergessen.
Tips: Wie können auch andere systemrelevante Berufe mehr Aufmerksamkeit bekommen?
Al-Mousli: Ich glaube, dass das nicht nur Aufgabe der Politik, sondern auch der Gesellschaft ist. Ich weiß, dass jeder sehr mit sich selbst beschäftigt ist und mit dem, was einen umgibt. Aber wir müssen aufmerksamer miteinander umgehen und füreinander einstehen. Die Arbeitsbedingungen füreinander müssen verbessert werden, weil wenn es der Kindergartenpädagogin schlecht geht und ich mein Kind dorthin schicke, dann hat das auch auf mich eine gewisse Auswirkung. Dadurch wirkt es sich auf die Gesellschaft aus. Selbiges gilt für Krankenhäuser.
Tips: Arbeitest du bereits an einem neuen Projekt?
Al-Mousli: Ich arbeite derzeit an einer Erzählung, die noch keinen Titel hat. Den findet man glaube ich immer erst am Ende. Da geht es um Objekte der Migration, die selbst eine Geschichte erzählen. Das Objekt war entweder der Grund, um wegzugehen, es wurde mitgenommen oder es dient als Portal, um dem anderen Ort näherzukommen.
Das Buch „Klatschen reicht nicht – Systemheld*innen im Portrait“ ist im Leykam Verlag erschienen. Vorgestellt wird es zunächst am 25. Oktober im Kepler Salon in Linz.
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