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Vorurteile am Arbeitsmarkt: "Einen Menschen mit Beeinträchtigung nehmen wir nicht, da zahle ich lieber"

Anna Fessler, 24.06.2024 18:13

LINZ. Tina Reischl will arbeiten. Rechts und links klagen Betriebe über Personalmangel, da scheint eine motivierte Arbeitssuchende ein Segen zu sein. Doch auch nach mehr als 500 Bewerbungen hat Reischl keine Stelle bekommen. Zu groß sind die Vorurteile gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung noch immer.

Tina Reischl (Mitte) und Johannes Schwabegger (rechts) im Gespräch mit Tips-Redakteurin Anna Fessler. (Foto: privat)

Tina Reischl (37) sitzt im Rollstuhl und ist stark fehlsichtig. Gewohnt hat sie bislang in diversen betreuten Einrichtungen, immer mit dem dringenden Wunsch nach mehr Selbstständigkeit. Nach 9,5 Jahren auf der Warteliste war es diesen Jänner endlich so weit, sie konnte ihre erste eigene Wohnung beziehen, unterstützt wird sie im Alltag von einer persönlichen Assistentin. Bestens bekannt sind ihr Arbeitsmodelle wie Werkstätten, Tages- und integrative Beschäftigung. Für Tina Reischl war eine solche Tätigkeit aber zu wenig: „Ich bin schnell unterfordert, ich will mehr“, sagt sie im Gespräch mit Tips.

Der Wunsch nach mehr

2012 hat sie sich deshalb für die Ausbildung als Peer-Beraterin angemeldet – und steht noch immer auf der Warteliste. Nach einem Praktikum im Call-Center und einem Job bei einem Umfrageinstitut ist Tina Reischl schon seit mehr als einem Jahr auf Arbeitssuche. Zwischen zehn bis 15 Bewerbungen verschickt sie pro Woche, durchforstet täglich das Netz nach neuen Stellenangeboten. Grundsätzlich gefiel ihr die Arbeit im Umfrageinstitut, aber einen Gedanken konnte sie nicht abschütteln: „Ich traue mir mehr zu“. Sie begann eine Ausbildung zur medizinischen Verwaltungsassistentin beim WIFI – „Ich habe am Tag gearbeitet und in der Nacht gelernt“, erzählt Reischl. Wegen ihrer starken Sehschwäche hätte sie Unterstützungsmittel wie Hörbücher oder eine Lernassistenz benötigt, die nicht verfügbar waren, hinzu kam massive Prüfungsangst: „Ich habe den Bildschirm gesehen, fing an zu schwitzen, zu zittern, auf einmal war alles weg.“ Die Ausbildung konnte sie ohne Unterstützung nicht abschließen.

Abgestempelt

Nach mehr als 500 verschickten Bewerbungen ist Reischl immer noch auf Arbeitssuche und zunehmend frustriert: „Ich fühle mich als würde ich wie am Spieß schreien und hilflos daliegen und keiner hört mich.“ Wer sie hört und auch gut kennt ist Johannes Schwabegger, er ist Peer-Berater und begleitet Reischl schon lange. Er sagt: „Für Frau Reischl wären Bürohilfstätigkeiten ideal, Empfangsdienst, Postbearbeitung… Genau in diese Richtung hat sie sich auch beworben, ist jedoch nie über ein Bewerbungsgespräch hinausgekommen. Die Firmen zeigen Interesse, sehen Frau Reischl und dann…“ Mit ihrer Beeinträchtigung geht Tina Reischl im Bewerbungsprozess offen um, aber: „Ich bekomme teilweise einen Stempel aufgedrückt und gesagt, ich müsse froh sein, dass ich dies oder das bekomme. Ich bin zwar beeinträchtigt, aber ich will leben. Ich will eine Arbeit, die mir Spaß macht, ich will nicht zuhause sitzen.“

Vorurteile am Arbeitsmarkt: „Nicht, dass wir Kunden verlieren“

Schwabegger habe viele Arbeitgeber erlebt, die ihm sagen: „Einen Menschen mit Beeinträchtigung nehmen wir nicht, da müssen wir zu viel adaptieren. Ich weiß nicht wie der ins Teamgefüge passt, da zahle ich lieber.“

So direkt sind die wenigsten, dennoch: laut Recherchen des Magazins „Dossier“ und „andererseits“ erfüllten im Jahr 2021 nur 22,4 Prozent der österreichischen Firmen die Beschäftigungspflicht bei sinkendem Trend. Der Rest zahlte lieber die Ausgleichstaxe. Betriebe sind verpflichtet, auf jeweils 25 Mitarbeiter eine begünstigt behinderte Person einzustellen oder die Ausgleichstaxe zu zahlen. Diese ist nach Unternehmensgröße gestaffelt.

Ein Beispiel: Eine Firma mit 100 Mitarbeitern, die keine einzige Person mit Behinderung beschäftigt, zahlt monatlich 1.800 Euro. Mitunter nur aufgrund von Vorurteilen: Tina Reischl wurde bei einer Bewerbung für einen Telefonjob gesagt, dass sie den Kunden nicht zumutbar sei, „nicht dass wir Kunden verlieren“, habe es geheißen. Wie die Kunden am Telefon überhaupt hätten merken sollen, dass ihr Gegenüber eine Beeinträchtigung aufweist, ist Reischl wie Schwabegger schleierhaft.

Selbstständigkeit bedroht

Was Tina Reischl durch die schwierige Zeit hilft, ist neben Unterstützern wie Schwabegger auch der Kontakt zu Tieren. Ihr Traum wäre es, selbst einen Hund zu halten. Zuerst aber will und muss sie einen geregelten Job finden, um die Miete und die Kosten für den Hund zu stemmen. Es ist nicht viel, was Tina Reischl sich wünscht: ernst genommen zu werden, ein möglichst selbstständiges Leben, sich die Wohnung leisten zu können, Unternehmungen in der Freizeit und vielleicht einen Hund. Aber vor allem will sie, wozu sie derzeit keine Chance bekommt: Tina Reischl will arbeiten.


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