Streetwork-Projekt hilft jungen Leuten, Stärke in der eigenen Lebensgeschichte zu finden
RIED. Wie kann verhindert werden, dass junge Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen – zum Beispiel, weil sie keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und sich nicht in beruflicher Ausbildung befinden – sich radikalisieren?
Mit dieser Frage beschäftigt sich das Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie der Universität Innsbruck (IRKS) seit März 2019 in einem Projekt, in das auch der Verein I.S.I. (Initiative für soziale Integration), Betreiber von elf Streetworkstellen und sechs Jugendzentren in Oberösterreich, einbezogen ist.
Die Rieder Streetworkerin Kerstin Hofstätter, die im 25. Jahr als Jugend- und Sozialarbeiterin tätig ist, wurde eingeladen, an diesem, wie sie sagt, „unglaublich tollen Projekt“ mitzuarbeiten. Der etwas sperrige Titel ist „BI:JU – Biografiearbeit in der Offenen Jugendarbeit als resilienzstärkende Maßnahmen zur Radikalisierungsprävention“.
Ausführliche Gespräche
In ausführlichen Gesprächen mit den jungen Menschen sollen Möglichkeiten gefunden werden, ihre „Widerstandskraft“ gegen Radikalisierung zu stärken – unter anderem, in dem die Sozialarbeiter versuchen, positive Aspekte in den Biographien der Teilnehmer herauszuarbeiten.
Die Streetworker wurden als Partner ausgesucht, weil – so Kerstin Hofstätter – „viele Jugendliche nach wie vor unsere Einrichtungen der offenen und mobilen Jugendarbeit (Streetwork) aufsuchen, um sich mit arbeitsbezogenen Themen auseinanderzusetzen“. Und das, obwohl das Netz an arbeitsbezogenen Projekten (Jugendcoaches, Kursen und Qualifizierungsprojekten) für arbeitssuchende Jugendliche in Oberösterreich besonders durch die Einführung der „Ausbildung bis 18“ in den letzten Jahren stark erweitert wurde.
Hofstätter: „Zu unseren Aufgaben gehört auch, eine breite Öffentlichkeit für Lebenslagen zu sensibilisieren, die ansonsten entweder unsichtbar bleiben oder in (medialen) Auseinandersetzungen am ehesten als ‚gesellschaftliches Problem‘ auftauchen.“
Sichtbar machen
In je drei teilnehmenden Streetwork-Stellen und Jugendzentren des Vereins I.S.I. wurden ausführliche Gespräche mit Jugendlichen geführt, in denen diese ihre Erfahrungen seit Beendigung der Pflichtschule erzählten. Das gab ihnen die Möglichkeit, den eigenen Lebenslauf zu reflektieren, gleichzeitig wurde eine Vertiefung der professionellen Beziehung zwischen Jugendarbeitern und Jugendlichen erreicht.
Virtuelle Ausstellung
Auszüge aus diesen Gesprächen wurden in Form einer Social-Media-Ausstellung verarbeitet. Dazu wurden die Zitate mit Symbolen kombiniert, die für die Teilnehmer in Verbindung mit „Arbeit und Ausbildung“ stehen. Die entstandenen „Biographie-Bilder“ sind auf den Instagram- und Facebook-Profilen der Einrichtungen oder gesammelt auf der Seite ohrbeit.wordpress.com zu sehen.
Erkenntnisse
Kerstin Hofstätter sprach dabei in einem vertraulichen Rahmen mit jungen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Nationalität (Österreich, Türkei, Kosovo, Irak, Rumänien) zwischen 18 und 23 Jahren und erfuhr dabei auch etwas über sich selbst: „Durch die Erzählungen und das Reflektieren wurde mir bewusst, welchen großen Part ich selbst in ihrer Sturm- und Drangzeit eingenommen habe – als Mensch und als Streetworkerin. Das ist für mich auch wirklich emotional! Es wurde dadurch so deutlich, welchen großen Wert junge Menschen auf Bindung, Beziehung und Teilhabe mit Erwachsenen legen, und was Wertschätzung, Anerkennung, Ausdauer und Augenhöhe ihnen bedeuten.“
Emotionale Momente
Die Streetworkerin hat höchsten Respekt vor den Teilnehmern des Projekts: „Es ist für junge Menschen gar nicht leicht, sich mit ihren Schul-, Ausbildungs- und Arbeitsgeschichten auseinanderzusetzen. Dies bedeutet für sie, ihre Geschichte zu erzählen, nachschauen, was alles passiert ist. Es gab schöne Momente manches war aber auch nicht so prickelnd.“
Als positives Beispiel nennt Hofstätter eine junge Frau, die während des Gesprächs meinte: „Mir war gar nicht bewusst, was ich alles schon geschafft habe. So habe ich das noch nie gesehen“, und dann mit den Worten „Und ich kann noch mehr!“ sofort anfing, weitere Pläne zu schmieden.
Eine andere habe erkannt, wie sehr ihr die eingeschworerne Gruppe von Freunden aus der Schulzeit fehle. Ein junger Mann habe im Gespräch erkannt, warum er während seiner Ausbildung ständig Probleme hatte und was ihm herausgeholfen habe.
Kerstin Hofstätter: „Es braucht auch weiterhin mutige Erwachsene die sich auf die Jugendlichen einlassen.“
„Nicht stehen bleiben“
„Als Streetworkerin darfst du nicht stehen bleiben“, sagt Höfstätter. „Auf der einen Seite ist es wichtig, mit der Jugend ‚mitzugehen‘, zu wissen, was läuft. Andererseits muss ich auch mein eigenes Methodenwissen erweitern und vertiefen. Das brauche ich für meine Neugierde, meine Motivation sowie meinem Herzblut für die Jugendarbeit.“
Ihre Teilnahme an den unterschiedlichen Teilen des Biografiearbeitsprojekts bezeichnet sie als „große Bereicherung“, sowohl für den Verein I.S.I., aber vor allem für sie als Jugend- und Sozialarbeiterin: „So kann ich meine langjährigen Erfahrungen in der Biografiearbeit im Einzelfallsetting in das Projekt einbringen, neue Konzepte zum Einsatz dieser Methoden mit entwickeln und in der Praxis erproben. Diese kann ich künftig weiter in meiner fachlichen Arbeit einsetzen.“
Wertvolle Erkenntnisse
Auch das IRKS erhielt durch die Zusammenarbeit mit den Jugend- und Sozialarbeitern wertvolle Erkenntnisse. Hemma Mayrhofer vom Leitungsteam des Instituts: „Wir konnten sehr viel von der professionellen und kreativen Biografiearbeit von I.S.I für unsere Forschung mitnehmen. Die Jugendlichen erhielten durch die narrativen Gespräche mit den Jugendarbeiter*innen eine außergewöhnliche Möglichkeit, den Verlauf ihres bisherigen Ausbildungs- und Berufslebens zu reflektieren. Die Rückmeldungen machen deutlich, dass die Jugendlichen dadurch neue Sichtweisen auf ihre eigenen Biografien entwickelt haben. Das ermöglicht es ihnen, im Rückblick eigene Stärken und Erfolge klarer wahrzunehmen und für den weiteren Lebensweg aktiv als Ressource zu nutzen.“
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