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„Sühnegedanken oder Rache kommen im modernen Strafvollzug nicht vor“

Walter Horn, 03.06.2025 18:58

RIED. Zu Jahresbeginn hat Philip Christl die Leitung der Justizanstalt Ried übernommen. Er ist Österreichs erster Staatsanwalt, der in die Funktion des Justizanstalts-Leiters wechselte.

Philip Christl wechselte von der Staatsanwaltschaft in den Vollzug. (Foto: Tips / Horn)
Philip Christl wechselte von der Staatsanwaltschaft in den Vollzug. (Foto: Tips / Horn)

Der 46-Jährige begann seine juristische Laufbahn 2003 als Staatsanwalt, spezialisierte sich ab 2008 in Linz auf Jugendliche und junge Erwachsene. Er war auch in der Justizanstalt Salzburg sowie in Asten tätig.

Tips:Sie haben vor rund einem halben Jahr die Leitung der Justizanstalt Ried übernommen – zuvor waren Sie als Staatsanwalt in Linz mit dem Schwerpunkt Jugendkriminalität tätig. Was hat Sie motiviert, in den Justizvollzug zu wechseln?

Christl: Ich hatte als Staatsanwalt immer einen Bezug zum Vollzug und habe schon in der Ausbildung dafür Feuer gefangen. Es hat mich interessiert, was mit den Menschen nach der Verurteilung passiert. Ich wusste, dass einige Stellen frei werden, und habe mich beworben. Ein Unterschied ist: Früher habe ich geschaut, dass ich die Leute einsperre, jetzt, dass sie rauskommen.

Tips:Helfen Ihnen Ihre Erfahrungen aus Ihrer Zeit als Staatsanwalt bei der Arbeit mit dem Personal und den Insassen?

Christl: Wir sind eine große Justizfamilie, das System ist mir seit der Ausbildung bekannt. Ich wurde darin sozialisiert. Das strafrechtliche Wissen hilft bis zu einem gewissen Grad.

Tips:In der Öffentlichkeit ist oft wenig bekannt über die Lebensrealität hinter Gittern. Was können die Insassen der Justizanstalt Ried während ihrer Haft tun?

Christl:Ried ist ein „gerichtliches Gefangenenhaus“, im Gegensatz zu Strafhäusern wie Suben oder forensisch-therapeutischen Zentren. Gerichtliche Gefangenenhäuser sind immer am Sitz des Landesgerichts angesiedelt. Die Insassen hier sind in Untersuchungshaft oder in Strafhaft bis zu 18 Monaten (nur bei begründeten Ausnahmen auch mit höheren Strafen). Wir haben einige Betriebe im Haus: die Hauswerkstatt, eine Kfz-Werkstatt, Unternehmerbetriebe, die für Firmen arbeiten, eine Wäscherei, Hausarbeiter, die vor allem Reinigungsarbeiten machen, die Beamtenküche und die Anstaltsküche – hier nehmen wir die Mahlzeiten aber nur entgegen und verteilen sie. Außerdem gibt es ein Freigängerhaus mit zwölf Leuten; die dürfen – eher gegen Ende der Haft – tagsüber unbewacht arbeiten gehen.

Tips:Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Disziplin und Resozialisierung in Ihrer Anstalt beschreiben?

Christl: Das geht Hand in Hand. Für die Sozialisierung ist ein Grad an Disziplin notwendig; nicht nur im Arbeitsprozess, sondern vor allem auch Selbstdisziplin. Unser Auftrag ist klar die Resozialisierung. Wir sind nicht hier, um zu strafen, sondern um die Gefangenen auf das Leben in der Freiheit vorzubereiten und sie hier sinnvoll zu beschäftigen. Das ist unser gesetzlicher Auftrag und unser Selbstbild. Sühnegedanken oder Rache kommen im modernen Strafvollzug nicht vor.

Tips:Welche Rolle spielt die psychologische und soziale Betreuung in Ihrer Einrichtung?

Christl: Eine sehr wichtige. Wir haben einen psychologischen und soziologischen Dienst im Haus, den sogenannten Fachdienst. Die sind eine große Hilfe und unterstützen uns mit ihrer Expertise, zum Beispiel bei Entscheidungen über Lockerungen für Gefangene. Solche Entscheidungen fallen im Fachteam, in dem auch gesundheitliche Aspekte berücksichtigt werden. Wir nutzen alles, was wir an Expertise haben, und das ist nicht wenig. Jede Entscheidung ist individuell und auf den Insassen bezogen. Das Gesetz räumt hier einen gewissen Spielraum ein und setzt stark auf Prognosen.

Tips:Was sind die wesentlichen Unterschiede im Umgang mit jungen Straftätern gegenüber Erwachsenen?

Christl: Junge Gefangene dürfen mehr Besuch empfangen, längere Zeit im Freien verbringen und mehr Pakete, auch mit Genussmitteln, empfangen. Wenn sie noch der Schulpflicht unterliegen, werden sie beschult. Dafür arbeiten wir mit externen Pädagoginnen und Pädagogen zusammen. Ein wichtiger Partner ist auch das BFI, bei dem wir regelmäßig Bildungsmaßnahmen zukaufen.

Tips:Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen – etwa Gerichten, Polizei, Bewährungshilfe oder Opferschutzeinrichtungen?

Christl: Die ist ausgezeichnet. Ich bin erst seit Jänner hier, habe aber schon sehr enge Kontakte mit den anderen Playern wie Gemeinde, Feuerwehr, Rotes Kreuz, Schuldnerberatung, AMS oder dem Verein Neustart. Auch meine Mitarbeiter haben über Jahre gute Kontakte aufgebaut. Die Zusammenarbeit ist friktionsfrei und gut.

Tips:Ein oft diskutiertes Thema ist der Personalmangel im Justizwachdienst. Wie ist die Lage bei Ihnen in Ried?

Christl:Wir haben grundsätzlich, wie im gesamten öffentlichen Dienst, nicht zu viele Mitarbeiter. Aber wir können unsere Aufgaben derzeit noch erfüllen. Für Ried kann ich sagen, dass die Mitarbeiter ein überdurchschnittlich hohes Engagement haben. Ich habe hier hoch motivierte Mitarbeiter, die weit mehr tun, als sie müssten. Eine Besonderheit in Ried ist, dass wir viele Bewerber haben. Wenn Planstellen frei werden, können wir die besetzen.

Tips: Sie haben gesagt, dass Sie Transparenz schaffen wollen. Was planen Sie im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit?

Christl: Wir planen im Herbst einen Tag der offenen Tür für alle. Es ist wichtig, den Strafvollzug der Öffentlichkeit zu präsentieren. Viele Leute haben nur das Bild aus dem Fernsehen und aus Romanen und sind dann überrascht, wie es wirklich aussieht welche Möglichkeiten wir den Insassen bieten, welche Aufgaben die Beamten haben. Justizwachebeamter ist ein abwechslungsreicher Beruf und bedeutet viel mehr als „Schließer“ oder „Wärter“. Das Auf- und Zusperren der Zellen ist nur ein marginaler Teil davon. Die Beamten sind auch Psychologen, Zuhörer, Hilfesteller und vieles mehr. Wenn der Strafvollzug transparenter und bekannter ist, kann man auch gewissen Ängsten leichter begegnen – zum Beispiel, dass jemand vom Ausgang nicht zurückkehrt. Aber das sind ohnehin nur leichte Fälle, denn sonst würden sie gar keinen Ausgang bekommen. Die Chance, dass wirklich gefährliche Leute entkommen, geht gegen null.

Tips:Zum Abschluss: Was ist für Sie schlimmer: Wenn ein Unschuldiger ins Gefängnis kommt oder wenn ein Schuldiger frei rumläuft?

Christl:Es ist zu 100 Prozent schlimmer, wenn ein Unschuldiger eingesperrt wird. Unser Rechtssystem ist auch darauf ausgelegt, so etwas möglichst zu verhindern. Auch deswegen, weil es eine Illusion ist, dass jeder Straftäter erwischt wird. Ein gewisser Anteil an Schuldigen läuft immer frei herum.


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