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Karim El-Gawhary: "Ach, Kopftuchverbot! Das ist nur eine Neben-, Neben-, Nebensache"

Thomas Lettner, 08.03.2017 15:12

ST. PÖLTEN. Journalist und Nahost-Experte Karim El-Gawhary hielt gestern im Bildungshaus St. Hippolyt den Vortrag „Was ist los in der arabischen Welt?“ und nahm dabei Stellung zu den Themen Bürgerkrieg in Syrien, Flüchtlinge, Islamischer Staat und die Rolle der westlichen Welt.

  1 / 3   Karim El-Gawhary war bei den Anfängen des arabischen Frühlings in Tunesien und Ägypten hautnah dabei und erhielt 2011 die Auszeichung Auslandsjournalist des Jahres. Fotos: Thomas Lettner

El-Gawhary betonte gleich zu Beginn seines Vortrags, dass die westliche Welt stark mit der arabischen Welt verbunden sei. Das merke man schon allein dann, wenn man das Auto volltankt. Der Umbruch in den arabischen Ländern dürfe nicht als Event gesehen werden wie es oft in den Medien falsch rübergebracht werde, sondern müsse als langfristiger Prozess verstanden werden. Ähnlich hätte es sich mit der Französischen Revolution verhalten, die Napoleon Bonaparte zu seinem Aufstieg verhalf. Der Konflikt zwischen den alten Regimen und den jungen Revolutionären in den Ländern des arabischen Frühlings sei noch lange nicht ausgestanden. So wären in Ägypten Verbündete des ehemaligen Präsidenten Mubarak auf freiem Fuß, während ehemalige Demonstranten seit den Aufständen 2011 noch immer im Gefängnis säßen. Die westliche Welt sei laut El-Gawhary nicht unschuldig am langen Bestehen der arabischen Autokratien, da Europa sie noch heute unterstütze, beispielsweise durch Waffenlieferungen in der Höhe von Milliarden von Dollar.

Radikalisierung hat mehrere Gründe

Der Islamische Staat (IS) müsse im Kontext gesehen werden, so der 53-jährige Deutsch-Ägypter. Ohne den syrischen Bürgerkrieg hätten sich die Menschen nicht so radikalisiert, auch die Intervention der Amerikaner im Irak hätte einen großen Beitrag zur Radikalisierung geleistet. Weitere Gründe für die Radikalisierung seien gewesen, dass das syrische Regime die islamistische Opposition aus den Gefängnissen entlassen habe und radikal-islamische Gruppen oft Geld von den Golfstaaten bekämen. Ein probates Mittel gegen den IS gibt es laut El-Gawhary nicht. Frühere Auseinandersetzungen hätten gezeigt, dass man Konflikte nicht militärisch lösen kann, sondern dass man sie politisch lösen müsse. Der IS werde, wenn er militärisch besiegt ist, seine Taktik ändern, beispielsweise Guerilla-Taktiken anwenden und sich umbenennen. Solange sich der IS als Schutzmacht der Sunniten gebe, sei es aber schwer, ihn zu beseitigen.

Viele Köche verderben den Brei

Wie auch die Revolutionen in Tunesien und Ägypten begann der syrische Bürgerkrieg als Demonstration gegen das Regime, nur mit dem Unterschied, dass das syrische Regime von den Fehlern der ehemaligen Machthaber Ben Ali und Mubarak gelernt und sofort mit massiver Gewalt geantwortet habe. Die sieben Jahre Bürgerkrieg hätten laut El-Gawhary nicht nur viele Tote und Verletzte, sondern auch viele „zerstörte Köpfe“ hervorgebracht. Der IS profitiere von der Verrohung der Menschen. Außerdem wollen viele „Köche“ von außen bei dem Krieg in Syrien mitmischen. Der Iran unterstütze das Regime, Saudi Arabien die Rebellen. Saudi Arabien wollte eine Alternative zum Machthaber Assad aufbauen, sodass der IS aufkommen konnte, der jetzt ein großes Problem für Saudi Arabien und die Türkei darstellt. Wenn der Iran, die Türkei, Saudi Arabien an einem Strang ziehen würden, wäre der Krieg sofort vorbei, sie fürchteten sich jedoch davor, dass die Instabilität Syriens auf sie selbst übergreifen könnte. El-Gawhary betonte, dass sich Israel zum Glück bisher aus dem Konflikt der Regionalmächte herausgehalten habe und er hoffe, dass das auch so bleibt.

Europa hat keine Flüchtlingskrise, sondern Krise der Solidarität

Bezüglich der Flüchtlingsströme müssten wir Europäer unsere Einstellung ändern. Weltweit seien 60 Millionen Menschen auf der Flucht, von denen etwa zwei bis drei Millionen nach Europa gekommen seien. Die Top 3 der Länder, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben, seien Kenia, Uganda und Pakistan. Die Flüchtlingswellen seien also kein europäisches, sondern ein weltweites Problem, dem man sich stellen müsse. Man dürfe nicht versuchen, die Herausforderungen aufhalten zu wollen, sondern müsse sie in rechte Bahnen lenken. In Europa gäbe es keine Krise der Flüchtlinge, sondern der Solidarität. „Ach, Kopftuchverbot! Das sind die Dinge, die hier diskutiert werden. Das ist nur eine Neben-, Neben-, Nebensache“, sagte El-Gawhary auf die Frage eines Zuhörers im Publikum, der das Kopftuchverbot zur Sprache brachte. Da der ungarische Ministerpräsidenten Viktor Orbán durch die Flüchtlinge das Ende des christlichen Abendlandes prophezeit, stellte El-Gawhary die Frage in den Raum, wie Orbán wohl argumentieren würde, wenn christliche afrikanische Flüchtlinge nach Ungarn kämen.


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