80 Jahre: Stadtteil Münichholz im einmaligen Porträt
STEYR. „Steyr-Münichholz – Mustersiedlung, Glasscherbenviertel, Zukunftsmodell“ heißt ein am 3. Dezember im Ennsthaler Verlag erschienenes Buch. Wer es liest, geht auf eine Zeitreise, die einem ganzen Stadtteil ein historisch-lebendiges Gesicht verleiht.
Sie wuchsen selbst im sogenannten „Glasscherbenviertel“ auf: Die Autoren Helmut Retzl und Günter Rammerstorfer kennen Münichholz wie ihre Westentasche. All das Wunderbare des Schauplatzes ihrer Jugendjahre, aber auch die einstigen Vorurteile von außen haben ihre Identität tief geprägt. Die beiden „Kinder“ jener Arbeitersiedlung, die die Nationalsozialisten 1938 für die Rüstungsindustrie entwarfen, spüren mit einem neuen Buch nicht nur den eigenen Wurzeln nach. „Wir wollen den Menschen, die das Land aufgebaut haben, einen Stellenwert in der Geschichte geben“, erklären der Hochschulprofessor und Soziologe Retzl und der Heimatforscher Rammerstorfer.
Die NS-Mustersiedlung
Über Münichholz gibt es eine Unmenge zu erzählen. Zum Beispiel über die Aussiedelung der Bewohner von 29 landwirtschaftlichen Anwesen anno 1938/39. Die Münichholzer Bauern mussten vor 80 Jahren der größten geschlossenen NS-Siedlung Österreichs weichen. Tausende Menschen verschiedenster Herkunft fanden dann in unmittelbarer Nähe zu den Steyr-Werken eine neue Heimat – der Krieg stand bevor und forderte reichlich Arbeitskraft ein.
Das Baukonzept war ausgeklügelt und obschon über ihm der Schatten der perfiden Hakenkreuz-Ideologie hing, gelang mit Münichholz eine „Mustersiedlung“. „Wir haben es mit einer Gartenstadt-Philosophie zu tun. Man beachte die luftig-helle Struktur des Stadtteiles mit den vielen Grünflächen“, erklärt Helmut Retzl. „Von uns Kindern hatte keines mehr als ein paar Minuten in den Wald zum Spielen“, erinnern sich die Autoren. Münichholz sei in seiner Kompaktheit eine architektonische Meisterleistung, die der modernen Stadtplanung durchaus als Vorbild dienen könne.
Das Glasscherbenviertel
Gesellschaftlich war der Stadtteil hingegen besonders nach dem Krieg einer, den andere Bürger mieden. Das Arbeiterviertel hatte den Ruf eines zwielichtigen Milieus. Helmut Retzl weiß noch, wie sich die dazugehörigen Vorurteile auch innerhalb des Viertels breitmachten. Als Kind einer in Untermiete lebenden Arbeiterfamilie in der Puschmann-Straße geboren, erzählte ihm eine Frau später, sie habe als Mädchen nicht mit ihm reden dürfen. In der Schule erlebte Retzl auch, dass eine Lehrkraft ein Kind aus dem „Glasscherbenviertel“ grundlos bloßstellen durfte.
„Münichholz war lange ein Ort ohne Bewohner mit höherem Bildungsgrad oder Rang“, erklärt Günter Rammerstorfer. „Oft hausten große Familien auf engstem Raum – zwischen den Clans kam es zu Fehden, die einem mitunter tatsächlich Grund gaben, abends zuhause zu bleiben.“
Zudem prägte das Trauma der Nazi-Zeit die Nachkriegsjahre. „Ein jeder wusste, was mit den Häftlingen im Konzentrationslager Münichholz geschah. Doch hätten wir etwas getan, wären wir selbst dorthin gebracht worden“, erzählte Retzls Mutter ihrem Sohn.
Geschichte aufarbeiten
Mit welchen Strategien die Menschen ihr Leben gestalteten, ist ein wichtiges Thema im neuen Buch „Steyr-Münichholz“. Beiden Autoren sind neben all den traurigen Dingen auch zahllose schöne Kindheitserlebnisse in „ihrem“ Münichholz unvergesslich.
Retzl und Rammerstorfer entbrannten für die Recherche um den Platz ihrer Jugend schon vor Jahrzehnten. Sie wollten mehr wissen über die Straßen, die bis 1945 nach Nazis, dann nach Freiheitskämpfern benannt wurden. Um das Engagement der beiden entstand ab 1983 sogar ein bemerkenswerter Bildungs- und Kulturarbeitskreis für den Stadtteil. 2.500 Menschen besuchten etwa 1985 eine groß angelegte Ausstellung, der eine einzigartige Bürgerbeteiligung vorausgegangen war: Zahlreiche Zeitzeugen wurden interviewt, tausende Fotos zusammengetragen. Die fachkundig dokumentierten Erinnerungen, besonders auch die der Autoren selbst, flossen ins neue Buch mit ein. Die persönlichen Geschichten der langjährigen Bewohner machen die Münichholzer Vergangenheit lebendig.
In die Zukunft blicken
Helmut Retzl bekam bereits 1986 den Gregor-Goldbacher-Preis für sein Geschichtsbuch „Münichholz – ein Stadtteil im Wandel der Zeit“. Es ist heute vergriffen. Das neue Werk beinhaltet nun u. a. einen Schatz von rund 100 historischen Bildern und Dokumenten, von denen viele erstmals veröffentlicht werden. Etwa ein illegal gemachtes Foto des KZ Münichholz.
Unerwähnt bleibt auch nicht, welcher Aufruhr durch Steyr ging, als Münichholz nach dem Zweiten Weltkrieg an Niederösterreich gehen sollte – vor der NS-Zeit hatte das Gebiet zu Behamberg gehört. Exakt 60 Jahre ist es her, dass Münichholz Oberösterreich zugesprochen wurde.
Der profunde Blick in die Vergangenheit soll nun ein neues Zukunftsbewusstsein bewirken. Die Hoffnung der Autoren: „Dass jüngere Generationen davon angeregt werden, die Stadtteilbelebung neu anzugehen.“ Bürgermeister Gerald Hackl ist jedenfalls sicher: „Dieses Buch wird in der zeitgeschichtlichen Literatur über Steyr einen wichtigen Platz einnehmen.“
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