Ein Plädoyer für den Erhalt der Amstettner Remise
AMSTETTEN. Der Historiker Gerhard Ziskovsky sieht die Amstettner Remise als historisches Erbe für die Nachwelt und spricht sich für den Erhalt der aus. Dies sind seine Argumente.
Prägend für das historische Zusammengehörigkeitsbewusstsein in einem Gemeinwesen sind besonders Phasen der Vergangenheit, die entscheidend zu seinem Werden beigetragen haben. Diese Gruppenzugehörigkeit beruht auf verschiedenen Formen der Erinnerung. Sie wird durch das kollektive Gedächtnis beeinflusst, dessen Deutungshoheit bei den Stadtverantwortlichen liegt.
Lokale Identität
Lokale Identität konstituiert sich in der Regel durch das äußere Erscheinungsbild und orientiert sich an Symbolen. Stadträume, Gebäude, Denkmäler sind nur in ihrem historisch-politischen Kontext zu verstehen, indem wir sie einordnen und verorten. Ohne diese Impulsstationen verlieren wir den Bezug zu unserer Geschichte als Voraussetzung für den Entwurf von Gegenwart und Zukunft.
Angesichts des drohenden Verlusts der Remise, die zusammen mit dem Wasserturm Wahrzeichencharakter hat, soll ihre Bedeutung, die in der Entstehungsphase der Stadt („Eisenbahnerort“) begründet liegt, in Erinnerung gebracht werden.
Erhaltene Originale in der Stadt
Da uns das Visuelle am meisten anspricht, suchen wir nach erhaltenen historischen Originalen. Wir setzen uns mit der baulichen Gestaltung auseinander, die das Alltagsleben der Menschen bisher prägte und sicherlich weiter mitprägt. Es gibt aber nur mehr wenige vollständig erhaltene Originale in der Stadt. Umso mehr ist es ein Glücksfall, dass das Heizhaus/die Remise, nach einem Bombenschaden 1945 teilweise zerstört und wieder aufgebaut, noch immer besteht (die aktuelle Nutzung wird vor allem von der Jugend angenommen), einer der noch bestehenden historischen Meilensteine im ständigen Wandel des Stadtbilds.
Woran werden sich nachfolgende Generationen orientieren, wenn das historisch gewachsene Stadtbild laufend reduziert wird?
Individuelle Identitäten
Durch das äußere Erscheinungsbild werden nicht nur kommunale, sondern auch individuelle Identitäten beeinflusst. Die historische Entwicklung des Eisenbahnorts ist für viele ein nicht zu leugnender Identitätszugang im Kleinen, nicht nur für diejenigen, deren Familien in der Eisenbahn verankert sind bzw. in irgendeiner Form mit ihr zu tun gehabt haben.
Eisenbahnerort
Amstetten wurde zum „Eisenbahnerort“ (liebevoll Eisenbahnernest“ genannt). Mit der Eröffnung der Kaiserin-Elisabeth-Westbahn 1858 und der Kronprinz-Rudolf-Bahn 1872 wurde Amstetten zum Bahnknotenpunkt mit internationalen Verbindungen. Im Laufe der folgenden Jahre wurde die dazugehörige Infrastruktur ausgebaut: Die große Montur- und Reparaturwerkstätte ab 1873 (heute nicht mehr bestehend), der Wasserturm 1908 und das Heizhaus/die Remise mit der Drehscheibe und 32 Lokomotivständen und genauso vielen Anschlussgleisen (1906-1909).
Stadtbild
Wenn wir uns die bestehenden Gebäude/Häuser in gründerzeitlicher Architektur wegdenken, fehlt Wesentliches im Stadtbild Amstettens. Viele Architekturjuwels wie der Bahnhof (1907-1910), das Alte Bezirksgericht am Hauptplatz und zuletzt das österreichweit bekannte Café Zentral in der Wienerstraße sind leider bereits verschwunden.
Ab 1872 wurde sogar vom Bahnhofsviertel ausgehend „Neu-Amstetten“ geplant und auch realisiert: Die mondäne Wienerstraße und die neue Bahnhofstraße, beide Geschäftsstraßen, und entsprechende Gaststätten und Cafés prägten das Stadtbild. Die Vollendung sollte die neue Achse Bahnhof-Kaiser Franz Josef-Jubiläumskirche (Doppelturmfassade im neogotischen Stil) bringen (heute Herz-Jesu-Kirche). Ein Architekturjuwel war neben dem neuen Bahnhof auch das Bahnhofshotel Hofmann, 1888 errichtet.
Die Eisenbahner waren in allen drei großen politischen Lagern vertreten: am stärksten bei den Sozialdemokraten, aber auch bei den Christlichsozialen (mit einem eigenen Sängerverein mit dem ersten Namen „Eisenbahn-Liederkranz“, und im großen Spektrum der Deutschnationalen. Die erste Ortsgruppe der Nationalsozialisten bestand vor allem aus Eisenbahnern (und auch Postangestellten).
Historischer Knotenpunkt
In den „goldenen“ Zwanzigerjahren zu Beginn der Ersten Republik leisteten sich die Eisenbahner eine eigene Kapelle, die stadtbekannte „Eisenbahnerkapelle“ (alle drei Großparteien vertreten), deren Kapellmeister Franz Sautner den berühmten Marsch „Hoch Amstetten“ komponierte, und sogar einen überparteilichen „Pfeifenklub“.
Auf dem Bahnhof gab es neben Licht- auch Schattenseiten (in den zwei prägendsten Geschichtsphasen der Kaiser- und NS-Zeit): Labestation des Roten Kreuzes während des Ersten Weltkriegs, Gewaltaktionen und Überfälle von zurückkehrenden Soldaten (Höhepunkt: 5.11.1918 mit vier Toten), Ort des Schleichhandels (mit vielen Beteiligten aus allen Gesellschaftsschichten der Stadt), Ort umfassender Zerstörungen durch schwere Luftangriffe am Ende der NS-Herrschaft, als der groß ausgebaute Vorbahnhof (vier Kilometer lang bis Hart, ca. 30 Gleise) zum wichtigsten Nachschubbahnhof für die kämpfende Front gegen die vordringende Sowjetarmee wurde, Ort des Arbeitskräfteeinsatzes von KZ-Häftlingen aus Mauthausen („Bahnlager I“ mit 3.100 männlichen, „Bahnlager II“ mit 500 weiblichen KZ-Häftlingen) unter Lebensgefahr, Ort der Erschießungen von hungernden KZ-Häftlingen (Kartoffel gestohlen), Ort der durchfahrenden Transporte von KZ-Häftlingen in Richtung Mauthausen nach Evakuierung der großen KZs und Vernichtungslager („Todeszüge“).
Symbol der Stadtwerdung
Es ergeht daher die dringende Bitte an alle Verantwortlichen, dieses Symbol der Stadtwerdung (es war bereits einmal in engerer Wahl, wobei leider nur dem Wasserturm Denkmalcharakter zugesprochen wurde, obwohl beide untrennbar zusammengehören) als historisches Erbe für spätere Generationen zu erhalten und das Vergessen hintanzuhalten, denn „Erinnerung begreift sich nicht zu Ende“ (Ilse Aichinger)
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