„Ich fühle mich eingesperrt, ich will mein Leben zurück“
BRAUNAU. Für viele Jugendliche ist das Social Distancing ein großer Einschnitt in ihr Leben. Viele von ihnen fühlen sich nicht nur eingeschränkt, sondern auch unverstanden. Tips sprach mit Johannes Friedl und Roxana Russinger von Streetwork Braunau über das Thema.
Der soziale Austausch mit Gleichaltrigen, das Streben nach Unabhängigkeit und die Sehnsucht nach Selbstständigkeit sind in der Jugendzeit besonders hoch. All das wird durch die derzeitige Situation sehr erschwert. „Viele Jugendliche wollen sich ausprobieren, haben viele soziale Kontakte und benötigen diese auch für eine gesunde Identitätsbildung“, sagt Friedl. Die beiden Streetworker unterstützen Jugendliche in unterschiedlichsten Lebenslagen vertraulich und anonym.
Pufferzohne fehlt
Jugendliche aus sozial schwächeren Familien treffen Maßnahmen wie ein Lockdown besonders hart. „Der Spalt zwischen Arm und Reich kommt durch die Coronakrise deutlich zu tragen“, so Russinger. Gerade in Familien mit beengten Wohnsituationen nutzen Jugendliche oft den öffentlichen Raum, um auszuweichen oder sich zurückzuziehen. In der Zeit des Lockdowns stand weder dieser noch die Schule als Pufferzone zur Verfügung. „Natürlich führte dies in konfliktgeladenen Familien oft zur Verschlimmerung der innerfamiliären Probleme“, berichtet Friedl. Problematisch sind auch die fehlenden Strukturen oder wenig Unterstützung beim Homeschooling. „Manchen wurde der Hauptschulabschluss „geschenkt“, andere beendeten die Pflichtschulzeit ohne Schulabschluss. Zukünftig wird es wichtig sein, der Generation Corona leicht zugängliche sekundäre Bildungswege zu eröffnen“, appelliert Friedl.
Erhöhter Substanzkonsum
Durch die eingeschränkte Situation entsteht häufig Frustration, Resignation oder Ohnmacht. Jugendliche reagieren darauf ganz unterschiedlich. Bei jenen, die bereits in der sozialen Isolation leben oder starke Tendenzen dahingehend haben, kann dieser Rückzug noch verstärkt werden. Die psychische Belastung nimmt zu. Extreme Stimmungsschwankungen oder Lethargie können Warnzeichen dafür sein. Die unausgelebten sozialen Bedürfnisse werden teilweise auch mit erhöhtem Substanzkonsum ausgeglichen. „Solange ich was zum Rauchen, Alk und vielleicht sogar Drogen habe, bleib ich halt dann zu Haus“, sagte eine Betroffene.
Zwar hält sich die junge Generation großteils an die verordneten Maßnahmen, wie die beiden berichten, das Verständnis dafür wird aber immer weniger, während der Frust steigt. Ein Jugendlicher sagte zu ihnen: „Ich fühle mich eingesperrt, ich will mein Leben zurück.“
Gespräche auf Augenhöhe
Soziale Medien können tatsächliche Kontakte und Beziehungen nicht ersetzen, aber zumindest dafür genutzt werden, um Verbindungen und Kontakte aufrechtzuerhalten, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen und zu vernetzen. Die körperliche Nähe geht den Jugendlichen jetzt aber ab. Auch viele Eltern fühlen sich derzeit überfordert und wenden sich an die Streetworker. Seit Corona sind die Anfragen um das Dreifache gestiegen. „Emotionale Nähe, gesunde Beziehungen, Struktur, einen klaren Rahmen und Perspektiven zu bieten, das ist jetzt besonders wichtig. Es ist notwendig, vermehrt das Gespräch zu suchen“, rät Russinger.
„Jugendliche wollen gehört werden und ihre Bedürfnisse sollten ernst genommen werden. Diese Generation gehört wohl zu den Verlierern der Coronakrise. Sie können oft nicht verstehen, warum dieser große Verzicht ihrerseits gerade notwendig ist. Aber genau dieses Verständnis würde wahrscheinlich helfen. Dafür braucht es einen regelmäßigen Dialog auf Augenhöhe.“
Jugendliche können sich jederzeit an die Streetwork-Stelle wenden. Dazu einfach anrufen oder vorbeikommen. Weitere Infos gibt es auf www.streetwork.at/braunau, Facebook oder Instagram.
Zu dem Thema „Jugendliche und Corona“ empfehlen Russinger und Friedl eine Stellungnahme der Uni Kassel: Kinder und Jugendliche in der Corona-Krise
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