Holocaust-Projekt: Mühlviertler beeindruckte an Amerikas Elite-Universitäten
NIEDERWALDKIRCHEN/HERZOGSDORF. Ein überwältigendes, einmaliges Erlebnis war für den Autor und Filmemacher Bernhard Rammerstorfer seine Vortragstour in den USA: Der Mühlviertler hat sein Holocaust-Projekt unter anderem in Harvard und Stanford präsentiert und damit Studenten und Professoren begeistert.
Für sein Projekt „Im Zeugenstand: Was wir noch sagen sollten“ hat der gebürtige Niederwaldkirchner, der jetzt in Herzogsdorf lebt, neun Holocaust-Überlebende und NS-Opfer aus fünf Ländern (Österreich, Tschechien, Deutschland, Frankreich, USA) interviewt. Sie wurden entweder aus rassistischen, politisch-ideologischen oder religiösen Gründen verfolgt. Insgesamt waren sie in 51 verschiedenen Lagern oder Anstalten. „Zusammengerechnet erreichen die neun Zeitzeugen ein Lebensalter von 806 Jahren, in denen ein enormer Erfahrungsschatz gesammelt wurde“, will Bernhard Rammerstorfer gegen das Vergessen aktiv werden. Ihnen allen wurden dieselben Fragen gestellt, die der Autor in fünf Jahren von 61 Schulen und Universitäten in 30 Ländern gesammelt hat.
Rammerstorfer ist gerade aus den USA zurückgekommen, wo er sein Buch und die DVD über die Holocaust-Opfer bei einer Vortragstour mit einigen der Zeitzeugen präsentiert hat. „Bereits bei den Vorlesungen an den Universitäten Harvard und Stanford waren viele begeisterte Studenten und Professoren anwesend. In Kalifornien kam es dann zu einem Höhepunkt der USA-Tour: An der prestigeträchtigen Ronald Reagan Presidential Library in Los Angeles kamen nahezu 1000 Besucher zu zwei Events“, berichtet der Mühlviertler begeistert. Mittels Live-Webcast wurde die Präsentation sogar in Schulen in ganz Amerika übertragen, „Schüler aus den verschiedenen Bundesstaaten konnten im Anschluss Fragen stellen.“
Vorlesung am Boston College
Das Projekt fand auch in der akademischen Welt großen Zuspruch: Der in München geborene Professor Lorenz Reibling, der am Boston College unterrichtet, zeigte sich begeistert darüber, wie Rammerstorfer an die NS-Aufarbeitungg herangeht. Er hat ihn und die Zeitzeugin Hermine Liska in seine Vorlesung am Boston College eingeladen. Letztere weigerte sich als Kind von Bibelforschern, der Hitlerjugend beizutreten und mit „Heil Hitler“ zu grüßen. Deshalb wurde sie als Zehnjährige von den Eltern getrennt und kam zum Umerziehung in ein Jugendheim. Dennoch ist von Verbitterung nichts zu spüren: „Du darfst nicht auf Rache sinnen, weil das schadet dir mehr. Rachegedanken sind das Schlimmste, was man haben kann.“
Kurzbiographien von einigen Zeitzeugen:
Ernst Blajs: Ich habe nur Essen gebracht
Verfolgungsgrund: Politischer Häftling (Kärntner Slowene)
Dauer des Freiheitsentzuges: 1 Jahr, 6 Monate
Ernst Blajs wurde im Alter von 15 Jahren am 12. Oktober 1943 verhaftet und am 11. April 1945 befreit. Er kam in das Gestapogefängnis Klagenfurt und in das Jugend-KZ Moringen. Dort musste er mit seinem Bruder Franz jeden Tag unterirdisch in bis zu 917 Metern Tiefe in der Munitionsanstalt in Volpriehausen arbeiten. Gegen Ende des Krieges wurde er auf den Todesmarsch geschickt. Nach kurzzeitiger Arbeit auf einem Bauernhof und Unterbringung in einem Sammellager konnte er am 27. August 1945 wieder nach Hause zurückkehren. Nach dem Krieg arbeitete er auf dem elterlichen Bauernhof und als Forstarbeiter sowie als Holzschuhmacher. Mit seiner Frau baute er ein Haus Kärnten.
Adolf Burger: Der Fälscher
Verfolgungsgrund: Jude (politischer Häftling, Slowake)
Dauer des Freiheitsentzuges: 2 Jahre, 9 Monate
Adolf Burger wurde am 11. August 1942 verhaftet und am 6. Mai 1945 befreit. Er kam in das Gefängnis Bratislava, das Lager Žilina und in die Konzentrationslager Auschwitz, Birkenau, Sachsenhausen, Mauthausen, Redl-Zipf und Ebensee. Als gelernter Buchdrucker war er im KZ Sachsenhausen im Sonderkommando „Unternehmen Bernhard“ und musste in der „Fälscherwerkstatt“ Millionen von gefälschten englischen Pfund-Sterling-Banknoten drucken. Seine Frau Gisela wurde im Dezember 1942 im KZ Birkenau vergast. Seine Mutter und sein Stiefvater starben ebenfalls im KZ.
Nach dem Krieg legte er ein Archiv mit Fotos und Dokumenten aus den Konzentrationslagern an und sprach in vielen Schulen in Deutschland, Österreich und Tschechien zu über 100.000 Jugendlichen über seine Erlebnisse. Burger schrieb seine Erfahrungen in Büchern nieder. Das Buch „Des Teufels Werkstatt“ bildete die Grundlage für den Film „Die Fälscher“, der 2008 den Oscar gewann.
Leopold Engleitner: Ungebrochener WilleVerfolgungsgrund: Zeuge Jehovas (Bibleforscher), Wehrdienstverweigerer
Dauer des Freiheitsentzuges: 6 Jahre, 5 Monate
Leopold Engleitner begegnete als Kind in Bad Ischl noch dem österreichischen Kaiser Franz Joseph. Als Schuljunge erlebte er die Schrecken des Ersten Weltkrieges. Nach seinem Religionswechsel zu den Zeugen Jehovas musste Engleitner bereits Mitte der 1930er-Jahre mehrere Haftstrafen verbüßen.
Leopold Engleitner wurde am 4. April 1939 im Alter von 33 Jahren verhaftet und am 15. Juli 1943 aus dem KZ mit der Verpflichtung zur lebenslangen Zwangsarbeit in der Landwirtschaft entlassen. Er kam in die Gefängnisse Bad Ischl, Linz, Wels, Salzburg und München sowie in die Konzentrationslager Buchenwald, Niederhagen und Ravensbrück. Am 17. April 1945 erhielt er den Einberufungsbefehl in die Deutsche Wehrmacht. Engleitner flüchtete in das Gebirge des Salzkammerguts und versteckte sich dort bis zum Kriegsende Anfang Mai 1945.
Engleitners Erlebnisse wurden in der Biografie „Ungebrochener Wille“ und dem Dokumentarfilm „Nein statt Ja und Amen“ festgehalten, welche in mehrere Sprachen übersetzt worden sind. Ende der 1990er-Jahre begann Engleitner an Schulen, Universitäten und Gedenkstätten in Europa und den USA über seine Erlebnisse zu sprechen. Als Zeitzeuge gegen das Vergessen reiste er als Hochbetagter über 150.000 Kilometer zu Vorträgen, was einer Distanz von mehr als drei Erdumrundungen entspricht.
Renée Firestone: Von Auschwitz ins Kennedy Center Verfolgungsgrund: Jüdin Dauer des Freiheitsentzuges: 1 Jahr
Renée Firestone wurde als 20-Jährige am 29. April 1944 von zu Hause weggebracht und am 8. Mai 1945 befreit. Sie kam in das Ghetto Uschorod, in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und in das Frauenarbeitslager Liebau. Täglich war sie den gefürchteten Selektionen durch Dr. Josef Mengele ausgesetzt und hatte auch einige direkte Begegnungen mit ihm. Ihre Mutter wurde vergast, ihre Schwester Klara wurde - nachdem an ihr medizinische Experimente vorgenommen worden waren - erschossen und ihr Vater starb kurz nach der Befreiung aus dem KZ. Nur ihr Bruder Frank überlebte. Nach dem Krieg heiratete sie Bernard Firestone, der das KZ Mauthausen überlebt hatte und wohnte in Prag. 1948 emigrierte sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter Klara in die USA. Dort führte Renée Firestone ein erfolgreiches Modegeschäft.1998 erzählte sie ihre Geschichte in Steven Spielbergs Oscar preisgekröntem Dokumentarfilm „The Last Days“. Als Vortragende in Schulen und Museen erzählt sie regelmäßig jungen Menschen vom Holocaust.
Frieda Horvath: Gestohlene Jugend
Verfolgungsgrund: Sintiza (Zigeunerin)
Dauer des Freiheitsentzuges: 2 Jahre, 2 Monate
Frieda Horvath wurde als 16-Jährige im März 1943 mit ihren Eltern und allen acht Geschwistern aus dem Nordosten Deutschlands deportiert und Ende April 1945 befreit. Sie kam in die Konzentrationslager Birkenau und Ravensbrück sowie in das Außenlager Graslitz. Dort musste sie in einer Munitionsfabrik Schwerarbeit leisten. Ihre Eltern und drei Brüder kamen in Konzentrationslagern ums Leben.
Nach dem Krieg heiratete sie Johann Horvath, einen Roma, der ebenfalls im KZ gewesen war, und wurde Mutter von fünf Kindern. Jahrzehntelang musste sie von einem Flüchtlingslager ins andere ziehen, bis sie 1971 in Linz an der Donau endlich eine eigene Wohnung bekam. Kochen ist ihre große Leidenschaft und sie liebt es, ihre Großfamlie kulinarisch zu verwöhnen.
Josef Jakubowicz: Als Leiche überlebt
Verfolgungsgrund: Jude
Dauer des Freiheitsentzuges: 5 Jahre, 2 Monate
Josef Jakubowicz musste als 14-Jähriger bei der Errichtung des KZ-Stammlagers Auschwitz I arbeiten. Von 1940 bis zu seiner Befreiung am 15. April 1945 war er in elf verschiedenen Konzentrations-, Zwangsarbeits- und Durchgangslagern inhaftiert. Jakubowicz kam in die Lager Sakrau, Annaberg, Rawa-Ruska, Groß-Masselwitz, Breslau-Neukirch und Markstädt sowie in die Konzentrationslager Fünfteichen, Groß-Rosen, Flossenbürg, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Bei einem Transport floh er in der Nähe von Prag 1944 zu einem Bauernhof, aber der Fluchtversuch scheiterte.
Die Eltern und die meisten seiner Familienangehörigen wurden während des Holocaust ermordet. Obwohl es ihn emotional sehr belastet, sprach er auch an Schulen über seine Erlebnisse und hat diese in seiner Autobiografie „Auschwitz ist auch eine Stadt“ festgehalten.
Simone Liebster: Die geschlossenen Läden
Verfolgungsgrund: Zeugin Jehovas (Biberlforscherin)
Dauer des Freiheitsentzuges: 1 Jahr, 10 Monate
Simone Liebster wurde als Zwölfjährige am 8. Juli 1943 von ihrer Mutter getrennt und am 26. April 1945 befreit. Sie kam in die Wessenberg“sche Erziehungsanstalt für Mädchen in Konstanz. Ihre Eltern wurden verhaftet und in verschiedene Lager und Konzentrationslager gebracht. Simone Liebster verweigerte den Hitler-Gruß und jegliche Kriegsunterstützung. Nach dem Krieg heiratete sie den jüdischen Holocaust-Überlebenden Max Liebster, der im Konzentrationslager ein Zeuge Jehovas geworden war. Gemeinsam waren sie als Missionare tätig.Ihre Erlebnisse beschrieb Liebster in der Autobiografie „Allein vor dem Löwen“, die in viele Sprachen übersetzt worden ist. Mit ihrem Mann reiste sie als Zeitzeugin gegen das Vergessen in viele Länder Europas und Amerikas. In Videokonferenzen per Skype erzählt sie Schülerinnen und Schülern aus den USA regelmäßig ihre Geschichte.
Hermine Liska: Widerstand einer Achtjährigen
Verfolgungsgrund: Zeugin Jehovas (Biberlforscherin)
Dauer des Freiheitsentzuges: 4 Jahre, 3 Monate
Hermine Liska wurde als Zehnjährige im Februar 1941 von den Eltern getrennt und konnte am 8. Mai 1945 nach Hause zurückkehren. Sie kam zur Umerziehung in das Jugendheim Waiern in Kärnten, in die Adelgundenanstalt in München und musste außerdem ein „Pflichtjahr“ in einem Kärntner Gasthaus mit kleiner Landwirtschaft leisten. Sie weigerte sich, der Hitlerjugend beizutreten und mit „Heil Hitler!“ zu grüßen.
Nach dem Krieg heiratete sie Erich Liska, schenkte drei Kindern das Leben und war Hausfrau.
Seit 1999 besucht sie als Zeitzeugin gegen das Vergessen Schulen in ganz Österreich und erzählt jedes Jahr bis zu 13.000 Schülerinnen und Schülern ihre Geschichte.
Richard Rudolph: Der „Doppelverfolgte“
Verfolgungsgrund: Zeuge Jehovas (Bibleforscher), Wehrdienstverweigerer
Dauer des Freiheitsentzuges: 18 Jahre, 11 Monate
Richard Rudolph erlebte als Kind den Ersten Weltkrieg, was in ihm eine große Abscheu gegen Krieg bewirkte. Er wurde am 2. Juli 1936 im Alter von 25 Jahren verhaftet und Anfang Mai 1945 befreit. Er kam in die Gefängnisse Hirschberg, Breslau und Potsdamer Platz in Berlin sowie in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Neuengamme, dessen Außenlager Salzgitter-Watenstedt/Leinde und Ravensbrück.
Von 1950 bis 1960 musste er in der kommunistischen DDR wegen seines Glaubens zehn Jahre Haft in Gefängnissen verbüßen. In den knapp 19 Jahren Haft war Rudolph insgesamt in vier Konzentrationslagern und neun Gefängnissen inhaftiert. Im Januar 1961 gelang ihm die Flucht nach West-Berlin in die Bundesrepublik Deutschland. Als so genannter „Doppelverfolgter“ unter zwei deutschen Diktaturen war er lange als Zeitzeuge tätig. Seine Vorträge führten ihn 2004 sogar an Universitäten in Japan.
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