Psychische Probleme bei Kindern und Jugendlichen: "Versorgungssituation ist prekär"
LINZ/OÖ. Pandemie, Krieg, Klimawandel: Die aktuellen Belastungen sind enorm und äußern sich gerade bei Kindern und Jugendlichen durch psychische Probleme bis hin zu Suizidgedanken. Primar Michael Merl schlägt Alarm. Er leitet die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Kepler Uniklinikum Linz (KUK), wo es 54 stationäre Betten gibt. Brauchen würde man doppelt so viele. Vor allem brauche es aber sofort auch viel mehr niederschwellige Angebote.
Seit Beginn der Pandemie und zusätzlich mit der Ukraine-Krise habe sich die Belastung massiv verschärft, so Merl. Nicht nur um ein vieles mehr kommen Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen wie Suizidgedanken, „vor allem kommen sie mit einem Alter, dass wir früher nicht hatten. Früher war die Dramatik bei 15-, 16-Jährigen, heute kommen 12-Jährige.“ Erst vor wenigen Tagen sei ein Bub mit neun Jahren nach einem Suizidversuch aufgenommen worden, zeigt der Mediziner die erschütternde Entwicklung auf.
Viel zu wenige Betten
In Linz gibt es derzeit 54 stationäre Behandlungsplätze, zudem gibt es zwölf Betten in der neu eröffneten Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Wels-Grieskirchen. „Wir brauchen etwa doppelt so viele in Oberösterreich“, sagt Merl. Etwas besser sei es im tagesklinischen Bereich (22 Behandlungsplätze in Linz, Wels/Grieskirchen fünf), aber auch hier gebe es zu wenig.
Natürlich würden jene mit suizidalen Krisen oder hochaggressive Kinder- und Jugendliche – Selbst- und Fremdgefährder - vorgereiht und stationär aufgenommen. Auch Patienten mit Essstörungen könne man nicht wegschicken. „Aber jene, die es auch dringend brauchen würden, kommen leider nicht zeitgerecht zum Zug.“
Station vorübergehend geschlossen
Dazu kommt ein Ärztemangel, und Personalausfälle durch Corona tun ihr Übriges: im KUK muss nun auch eine tagesklinische Therapiestation vorübergehend geschlossen werden, weil das Personal fehlt.
„Sind Krisenverwalter“
„Die Versorgungssituation im stationären Bereich ist prekär. Wir haben derzeit Auslastungen zwischen 120 und 140 Prozent der Betten bei 100 oder weniger Prozent Personal.“ Und weiter: „Wir sind im stationären Bereich derzeit Verwalter von Krisen. Das heißt, wir schauen, dass wir Kinder und Jugendliche stabilisieren und dann einigermaßen stabilisiert wieder heimschicken.“ Viel mehr Betreuung wäre aber nötig. „Wir brauchen mehr niederschwellige Angebote, wir brauchen mehr stationäre Angebote, wir brauchen mehr tagesklinische Angebote und wir brauchen engagierte Menschen, die sich um Kinder und Jugendliche annehmen“, so der Primar alarmiert.
Niederschwellige Angebote ausbauen
Die Politik müsse das Problem jetzt angehen, auch im Hinblick auf die Folgekosten, die viel höher sein werden als jetzt notwendige Investitionen ins System. Merl spricht nicht nur vom Ausbau der Bettenanzahl, der nicht sofort möglich sei, vor allem müsse jetzt das niederschwellige Angebot wie Beratungsstellen und psychosoziale Zentren ausgebaut werden.
Genauso sieht das die Familienberaterin, Lebens- und Sozialberaterin mit freier Praxis in Linz Ruth Karner. Sie betreut Kinder und Jugendliche, die den Kindergarten, die Schule verweigern, kennt massive Mobbingfälle; fehlende Impulskontrolle, innerfamiliäre Konflikte und das große Thema der Mediensucht gehören zu den häufigsten Problemen. „Ich könnte im Moment zehnmal so viel arbeiten, wie ich kann“, so die Linzerin. Diese Themen und Anfragen dazu hätten sich in ihrer Praxis um 300 Prozent gesteigert. „Wir haben die Kinder lange Zeit in die Wohnungen verbannt, es ist jeglicher Kontakt reduziert worden, die Kinder wurden als die großen Gefährder hingestellt – da kommt jetzt ganz viel raus.“
„Kinder, Eltern, Pädagogen sind fertig“
Was ihr so weh tue: „Wir reden über das, was man politisch machen muss, zum Ausgleich für die Pandemie. Da ist der wirtschaftliche Bereich sehr wichtig, aber über den Kinder- und Jugendbereich wird kaum geredet. Ich frage mich, wo sind die Millionen dafür? Sie wären dringend nötig.“ Denn: „Die Kinder sind fertig, die Eltern sind fertig, die Pädagogen sind fertig. Sie können nicht mehr.“
Zwar gebe es das neue Projekt „Gesund aus der Krise“ des Bundes, das kostenfreie therapeutische Hilfe bietet, „aber es gibt kaum Therapeuten mit freien Plätzen.“
Familienberatung ausbauen und fördern
Ein Lösungsansatz für sie: Der Ausbau der kostenlosen Familienberatung bzw. Förderungen von Familienberatungen. Denn dieser Bereich könne viel abnehmen, der Therapiebereich könne dann für wirklich harte Fälle wie Kinder- und Jugendliche mit Suizidgedanken da sein. Zwar gibt es öffentliche, kostenlose Familienberatungsstellen, sie kritisiert aber, dass es keinerlei Initiative gebe, dieses Angebot auszubauen. Das vorhandene Angebot sei seit Corona überlastet, Ende nie.
Primar Merl verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Kosten von Therapiestunden – 80 bis 120 Euro pro Stunde. Die Gesundheitskasse refundiert 28 Euro. „Das muss umgekehrt der Fall sein. Ein Selbstbehalt ist OK, aber der weitaus größere Teil muss refundiert werden“, fordert er.
Kinderfreunde: Konzepte für Herbst und Winter
Unterstützt werden die beiden Experten von den Kinderfreunden Oberösterreich. Sie fordern ordentliche Konzepte für Herbst und Winter, um die Sekundärfolgen der Pandemie nicht noch zu verschlimmern. „Wir kämpfen seit Anfang 2020 überparteilich dafür, dass ein Leben für Kinder und Jugendliche stattfindet, ohne dass diese den Sinn des Lebens verlieren“, so Roland Schwandner, Vorsitzender der Kinderfreunde OÖ.
Die Forderungen: Die Schulen müssen offen bleiben, Ausflüge und Projektwochen stattfinden, diese durch Förderungen so kostengünstig wie möglich gemacht werden. In Kindergärten brauche es viel kleinere Gruppengrößen, damit Zeit für die nötige Zuwendung bleibt.
Wie schon bei der Zahngesundheitsvorsorge soll es flächendeckend an Schulen auch Workshops mit Experten geben, um Krisen und Auswirkungen zu besprechen.
„Schule als Ort zum Leben lernen“
Dies unterstreicht Primar Merl, der schon lange fordert, Psychotherapeuten und Psychologen an Schulen zu schicken. „Schule ist ein Ort zum Leben lernen.“ Man müsse entspannter an die Situation herangehen, „weniger wissensvermittelnd, sondern mehr Lebensqualität-Stunden einführen, darüber reden, wie es einem geht.“
Ruth Karner: „Schule ist für mich auch Persönlichkeitsentwicklung und sozialer Lernort. Genau diese Dinge sind während Corona reduziert worden, nicht ohne Nachwirkung. Was übrig geblieben ist, ist der Leistungsdruck, daher dürfen wir uns über die Entwicklung nicht wundern.“
Hinweis: Workshops an Schulen ab Herbst
Das Jugendservice des Landes OÖ hat mit Jahresbeginn seine Angebote im Schwerpunkt psychische Gesundheit neu ausgerichtet. Ein neues Projekt: Gemeinsam mit der Landesschülervertretung OÖ werden ab Herbst Workshops zum Thema psychische Gesundheit für Schulklassen, Jugendvereine und Gemeinden angeboten. Mehr dazu hier.
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