Essstörung: „Es geht darum, Selbstliebe zu lernen“
STEYR. Sommer, Sonne, Strandfigur: Hagere Modelanwärterinnen in Castingshows und die Inszenierung des eigenen Körpers über soziale Online-Dienste fördern mehr denn je übersteigerte Ansprüche an das äußere Erscheinungsbild. Andrea Ostermayr aus Steyr weiß, was das bedeuten kann. Zehn Jahre lang durchlebte sie die tiefen Abgründe einer Essstörung.
„Mit 20 wurde ich magersüchtig, dann kam Bulimie, danach Binge-Eating, bei dem man regelrechte Fressanfälle durchleidet“, erzählt die heute 38-jährige Andrea Ostermayr. Richtig anfing es bei ihr mit der Trennung von ihrem ersten Freund. „Damals habe ich einen Herzschmerz gespürt, wie ich ihn zuvor nicht kannte.“ Den folgenden Monat gönnt sie sich keinen Bissen – und findet daran Gefallen: „Es gab mir das Gefühl, mein Leben unter Kontrolle zu halten.“
Kurze Zeit später beschließt Ostermayr, ihre Zelte in Steyr abzubrechen, übersiedelt in die Schweiz. Dort kann sie jedoch ihren Nahrungsverzicht nicht aufrechterhalten, Heißhungerattacken stellen sich ein. Es folgt eine Achterbahnfahrt ohne vorläufiges Ende – ein Hürdenlauf von einer Form der Essstörung in die nächste. „Im Sommer verausgabte ich mich täglich sechs, sieben Stunden beim Sport. Zugleich nahm ich nur 300 bis 400 Kalorien zu mir.“ Irgendwann zeigt die Waage nur noch 42 Kilo an.
Dünnsein diktierte den Tag
Ihr gesamter Alltag ist zu jener Zeit auf Gewichtsabnahme ausgerichtet, die Gedanken kreisen ständig um Kalorien und Sport. Den Job als Barkeeperin versucht sie damit mühsam unter einen Hut zu bringen. Sie kann kaum still sitzen. Auch eine Psychotherapie bleibt ohne Erfolg. Zurück in der Heimat beginnt Ostermayr ein Fachhochschulstudium, macht sich selbst dabei enormen Druck. „Das ist typisch für Magersüchtige. Sie legen eine unglaubliche Disziplin an den Tag“, so die Steyrerin. Wach rüttelt sie schließlich der Moment, als sie buchstäblich am Boden liegt: alleine und beinahe bewusstlos auf der Toilette einer Wohnung. „Ich erkannte: Wenn sich nichts ändert, endet es schlimm mit mir.“ Ostermayr begibt sich daraufhin in klinische Behandlung – doch wieder vergebens. „Was ich von den neun Wochen dort mitnahm, waren hauptsächlich Tipps von anderen Patientinnen, wie ich noch mehr abnehmen könnte.“
„Ich habe mich geschämt“
Zehn Jahre lang saß Andrea Ostermayr tief in ihrer Krankheit fest, die sich heimlich in ihr Leben eingeschlichen hatte. Sie verlor Freunde, zog sich aus der Familie zurück. „Während der Bulimie verschlang ich solche Mengen, das wäre unter Leuten gar nicht möglich gewesen. Jeder hätte sofort gemerkt: Da stimmt was nicht.“ Aß sie Heißes, verbrannte sie sich in der Hast oft unter großen Schmerzen den Gaumen. „Ich habe mich für all das wahnsinnig geschämt“, so die 38-Jährige.
Langer Weg
Beistand von der Familie anzunehmen gelang ihr aus Angst und Schamgefühl kaum. „Die emotionale Nähe verhindert auch viel zu sehr, das Problem des Betroffenen wirklich zu verstehen.“ Doch die junge Frau wollte Hilfe. Psychopharmaka hatte sie zuvor schon abgelehnt – sie wollte ihr Leid, das ihr bereits gesundheitliche Probleme bereitete und sie eine Zeitlang sogar das Sterben herbeiwünschen ließ, nicht betäuben, sondern endlich verstehen.
Mobbing in der Schule
Die Steyrerin machte sich also aus eigener Kraft auf die Suche, las viel, machte sogar Ausbildungen im alternativen Bereich. Sie verstand bald, dass ihre Erkrankung in der Kindheit wurzelt. „Schon in der Schule bin ich für meine muskulöse Statur gemobbt worden.“ Daneben erlebte sie die berufliche Auslastung ihrer Eltern als schmerzvollen Entzug von Aufmerksamkeit. Der zunehmende Schönheitswahn tat sein Übriges: „Ich dachte, ich werde nur geliebt, wenn ich schlank bin.“
Selbst habe sie es früher nie geglaubt, wenn ihr jemand sagte, sie sei schön. „Ich fühlte mich noch mit 42 Kilo als hätte ich 100.“ Heute sei sie glücklich wie nie, weil sie ihre Krankheit als Suche nach Liebe verstanden habe, als ein Druckventil. „Ich habe durch die Essstörung Selbstliebe und den Glauben an mich lernen müssen.“ Ostermayr sieht den Menschen seither mit großer Macht ausgestattet: „Wir erschaffen selbst unsere Lebenswirklichkeit.“
Gesellschaftlicher Druck
Seit einigen Jahren begleitet sie Menschen, die Ähnliches erleben, ist als Bewusstseins-Coach tätig. Den Druck, der heute auf junge Menschen durch die Werbeindustrie und soziale Medien aufgebaut wird, findet sie alarmierend. „Zwölfjährige reden schon von Diät. Daneben gibt es massenhaft Produkte in Supermärkten, die niemand braucht.“ Um Jugendliche zu schützen rät Ostermayr Eltern, Kindern viel Zuwendung zu geben, mit ihnen gemeinsam zu kochen und beim Essen ein Vorbild zu sein. „Dann braucht es auch keine Verbote, diese sind ohnehin eher kontraproduktiv und machen Dinge erst recht interessant.“ Mit der Essstörung verhalte es sich im Übrigen ähnlich: „Je mehr du sie weg haben willst, desto mächtiger wird sie über dich. Man muss versuchen, Dinge anzunehmen, erst dann kann sich etwas verändern.“
Kommentare sind nur für eingeloggte User verfügbar.
Jetzt anmelden