ENNS. Im Jahr 2010 gründete der Ennser Jürgen Holzinger den Verein „ChronischKrank“, der dafür Sorge trägt, dass chronisch kranke Menschen jene Hilfe bekommen, die sie brauchen und die ihnen gesetzlich auch zusteht. Sein Engagement bringt ihn heute regelmäßig in das Parlament, wo er aufzeigt, dass die Praxis in der Regel anders aussieht, als die Theorie.
16 Jahre lang arbeitete Jürgen Holzinger als Friseur in Enns, mit 22 Jahren wurde er mit der Diagnose „Nierenversagen“ konfrontiert, die ihn dreimal pro Woche zur Dialyse ins Krankenhaus zwang. In dieser Zeit musste er feststellen, wie schwierig es ist – in einem Land wie Österreich wohlbemerkt – jene sozialen Leistungen in Anspruch zu nehmen, die ihm und tausenden anderen Menschen eigentlich zustehen. Sein Kampf gegen das Gesundheitssystem nahm hier seinen Anfang.
Langer Weg
Da sich Holzinger nicht nur auf seine Erfahrungswerte als Patient verlassen wollte, studierte er Soziologie sowie acht Semester Medizin und Psychologie, um seine Erfahrungen mit fachlicher Kompetenz verschmelzen zu lassen. „Wenn man in dieser Hinsicht etwas bewirken will“, so Holzinger, „dann muss man mit der Materie vertraut sein.“ Und das ist er – acht Jahre nach der Gründung vertritt der Verein ChronischKrank österreichweit rund 10.000 Menschen. Darüberhinaus wird er regelmäßig von der Regierung, der Opposition und vom Sozialministerium ins Parlament eingeladen, um dort zu veranschaulichen, wie viele Menschen nicht das bekommen, was ihnen gesetzlich zustehen würde. „Es grenzt fast schon an ein Wunder, dass die Regierungsparteien auf uns zukommen, um sich Informationen aus erster Hand zu holen“, sagt Holzinger im Gespräch mit Tips.
Der Verein
Der ehrenamtliche Verein ChronischKrank besteht unter anderem aus Absolventen und Studenten der unterschiedlichsten Fachdisziplinen, wie Sozialwissenschaften, Rechtswissenschaften, Psychologie, Ernährungswissenschaften, Pflegewissenschaften oder Medizin, sowie aus ehrenamtlichen Mitarbeitern, die selbst betroffen und chronisch krank sind. „Das ermöglicht uns eine multidisziplinäre und sehr empathische Zusammenarbeit und hält uns fortlaufend auf dem aktuellsten Stand der Wissenschaft. Wir setzen uns für kranke, beeinträchtigte und sozial schwache Menschen sowie deren Angehörige in Österreich ein“, erzählt der Obmann. Die Vereinsarbeit wäre ohne die Ehrenamtlichkeit und die Motivation der Mitarbeiter nicht möglich.
Ziele des Vereins
Die Ziele des Vereins definieren sich in einer starken Interessensvertretung für chronisch kranke, beeinträchtigte sowie sozial schwache Menschen und deren Angehörige. Darüber hinaus werden persönliche Informationsgespräche angeboten und die Mitglieder durch schwere gesundheitliche und soziale Krisen begleitet. „Es ist uns außerdem wichtig, regelmäßig in diversen Medien zu publizieren, Missstände und Verbesserungsmöglichkeiten aufzuzeigen und Erfolge zu präsentieren“, so Holzinger. Verantwortungsträger der Politik, Sozialversicherung und Gesellschaft sollen außerdem mit Missständen konfrontiert werden, um Veränderungen und Verbesserungen für kranke und beeinträchtigte Menschen durchzusetzen und anzuregen. Und auch für Angehörige, die ebenfalls eine schwere Last zu tragen haben, ist der Verein da.
Fallbeispiel
Andrea ist 32 Jahre alt und Mutter von drei Kindern im Alter von zehn Monaten, vier und sechs Jahren. Seit zehn Jahren kämpft sie mit Depressionen und Panikattacken. Dann kam ihr jüngster Sohn Jakub mit der Diagnose „Tibia-Aplasie“ zur Welt. Er hat keine Schienbeine, kein rechtes Knie, keine Sprunggelenke, bei einem Fuß nur drei, beim anderen nur vier Zehen. „Zwei Wochen nach seiner Geburt standen wir vor einer schwierigen Entscheidung: entweder die Beine amputieren und mit Prothesen versorgen oder die Beine zu rekonstruieren“, so die Mutter.
Das ganze Leben lang würde Jakub Orthesen tragen müssen. „Da ich als Mutter weder die eine noch die andere Möglichkeit akzeptieren konnte, habe ich mich auf die Suche begeben – ein erfahrener Spezialist in den USA konnte uns schließlich die beste Prognose stellen: sollte er Jakub operieren, könnte er sich in Zukunft ohne Orthesen fortbewegen.“ Hierzu benötigte die Familie allerdings sehr viel Geld.
Erfolgreiche Arbeit
Sehr viel Geld bedeutete in diesem Fall etwa 500.000 Euro, die die Krankenkasse auf Anfrage zunächst nicht übernehmen wollte. Hier begann die Arbeit des Vereins ChronischKrank, die aufgrund des großen Einsatzes schlussendlich von großem Erfolg gekrönt war. „Die Krankenkassen denken üblicherweise nicht sehr weit, weshalb man die 500.000 Euro zunächst nicht bezahlen wollte. Wir setzten uns also hin, und berechneten alle Kosten, die ohne diesen chirurgischen Eingriff auf die Krankenkasse zukommen würde. Eine grobe Berechnung ergab einen Betrag von rund drei Millionen Euro auf die Lebenszeit von Jakub aufgerechnet“, erklärt Holzinger. Und siehe da: plötzlich war die Krankenkasse bereit, den vollen Betrag zu übernehmen, „was uns dann doch ziemlich überrascht hat, da normalerweise maximal 80 Prozent der Kosten übernommen werden. In diesem Fall übernahm die Krankenkasse die vollen 100 Prozent“, erzählt Holzinger.
Kalenderprojekt
Jakub sowie viele andere Menschen mit ähnlichem Hintergrund erzählten ihre Geschichte im Kalenderprojekt unter dem Titel „Zu schön, um krank zu sein“. „Bei unserem Kampf mit Behörden, Gutachtern, Ärzten und der Bürokratie sind wir auf viele Menschen gestoßen, denen es ähnlich erging wie uns“, so die Initiatorinnen Karin Thalhammer und Karin Gussmack. Das Kalenderprojekt soll aufzeigen, dass sich hinter einem gepflegten Äußeren oft ein schmerzender Körper versteckt.
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