Unterwegs mit der Tafel: Rettung vor den Melker Mülltonnen
BEZIRK MELK. Österreich schmeißt jährlich so viel an genießbaren Lebensmitteln weg, wie die gesamte Kärntner Bevölkerung isst. Gleichzeitig sind mehr als 1,5 Millionen Österreicher armuts- oder ausgrenzungsgefährdet. Brücken zwischen Überfluss und Mangel schlagen sogenannte „Tafeln“. Sie retten Lebensmittel vor der Mülltonne und versorgen damit von Armut betroffene Menschen. Auch im Bezirk Melk werden Brücken geschlagen. Tips hat Ehrenamtliche, die für die Tafel im Einsatz sind, einen Tag lang begleitet.
Samstagabend im Volkshaus Pöchlarn: Auf der einen Seite hunderte Kilogramm Lebensmittel, die in der Mülltonne landen sollten, auf der anderen Seite Menschen, die sich die Mittel zum Leben nicht oder kaum leisten können. Rund 40 Personen mit geringem Einkommen sind es diesmal, die den Weg zum Volkshaus in Pöchlarn auf sich genommen haben, um auf die Lebensmittelausgabe, die um 19 Uhr beginnt, zu warten. „Bis wir mit allem fertig sind, kann es schon mal halb zehn werden“, erzählt die Ehrenamtliche Maria Kaiser. Sie gehört dem „Team Österreich Tafel“, ein Projekt vom Österreichischen Roten Kreuz und Hitradio Ö3, an. Jeden Samstag retten insgesamt acht Freiwillige für die Melker Tafel genießbare Lebensmittel vor der Mülltonne und verteilen sie in Pöchlarn kostenlos an Menschen aus der Region – im Einsatz sind sie dafür stundenlang.
Arbeit mit Sinn
Der Anfang wird um 14 Uhr in der Bezirksstelle des Roten Kreuzes in Melk gemacht: Dort bereiten Alois Porsch und Harald Schmelzer einen Kleinbus für die Tafelausfahrt vor. Die beiden Jungpensionisten sind freiwillige Mitarbeiter des Gesundheits- und Sozialdienstes des Roten Kreuzes und haben heute den Tafel-Fahrerdienst über. „Ich habe nach etwas gesucht, das Sinn macht. Hier kann ich helfen und es tut nicht weh. Die Stunden hier gehen nicht ab“, erklärt Schmelzer seinen Eintritt beim Roten Kreuz vor rund einem Jahr. Auch Porsch wurde nach seinem Pensionsantritt vor knapp zwei Jahren zu einem Rot-Kreuzler: „Mir geht es gut, da kann man schon etwas zurückgeben.“ Tips-Redakteurin Margareta Pittl darf zwischen den zwei Freiwilligen im Rot-Kreuz-Auto Platz nehmen. Rund 100 Kilometer wird man in den nächsten Stunden zurücklegen. 14 Supermärkte stehen am Routenplan. Zunächst geht es nach Loosdorf und Prinzersdorf.
„Daran gewöhnt man sich nie“
Porsch und Schmelzer steuern zielsicher die Ladezufahrten der Märkte an und die ersten Einkaufswagerl voller Lebensmittel werden eingeladen. „Die Mengen haben mich anfangs schon sehr überrascht“, erklärt Porsch während er gemeinsam mit Schmelzer Joghurts, Milch, Schokolade, Getränke und vieles mehr in das Rettungsauto hievt. Rund 600 Kilogramm Lebensmittel, die aufgrund des nahenden oder kurz überschrittenen Ablaufdatums nicht mehr für den Verkauf geeignet sind, werden in den nächsten vier Stunden in das Rettungsauto verfrachtet. Von Prinzersdorf geht es weiter nach St. Leonhard. „Wir sind wirklich froh, dass es die Tafel gibt. Gute Lebensmittel in die Tonne zu werfen, daran gewöhnt man sich nie. Das widerstrebt einem“, erzählt eine Supermarkt-Mitarbeiterin, während sie Porsch und Schmelzer die für die Tafel vorbereiteten Kisten übergibt.
So viel, wie Kärnten isst
In Österreich werden jährlich 577.000 Tonnen genießbare Lebensmittel weggeschmissen. Das bedeutet: Österreich kippt jährlich so viel in die Tonne, wie die gesamte Kärntner Bevölkerung isst – zu diesem Ergebnis kam ein 2018 durchgeführtes Studienupdate von WWF und Österreichischem Ökologie-Institut. Zahlen aus Landwirtschaft und Großhandel sind dabei allerdings noch nicht einmal mit einberechnet, da es dazu nach wie vor keine validen Daten gibt. Das heißt, dass die tatsächliche Menge an verschwendeten Lebensmitteln vermutlich noch viel größer ist. Dieser unglaublichen Zahl stehen mehr als 1,5 Millionen Menschen gegenüber, die in Österreich armuts- oder ausgrenzungsgefährdet sind. 323.000 Menschen haben ein so ein geringes Einkommen, dass sie sich wesentliche Güter wie Waschmaschinen oder Heizkosten nicht leisten können. Am stärksten betroffen sind Nicht-Österreicher, Langzeitarbeitslose, Alleinerzieher und Familien mit drei oder mehr Kindern. „Die Ungleichheit in Österreich ist so hoch wie in kaum einem anderen europäischen Land. Trotz Berufstätigkeit ist es vielen Menschen nicht möglich, ihre Ausgaben zu decken. Gründe dafür sind unter anderem prekäre Arbeitsverhältnisse, wachsender Druck am Arbeitsmarkt und hohe Mietkosten. So steigt der Bedarf an Lebensmittelspenden bei den Tafelorganisationen seit Jahren massiv an“, bilanzierte der Verband der österreichischen Tafeln im Vorjahr.
31.500 Kilogramm gerettet
Die Tafel in Pöchlarn gibt es seit dem Jahr 2011, sie ist neben Pöggstall eine von zwei Ausgabestellen im Bezirk Melk. „Rund 30 Freiwillige sind für die Tafel in Pöchlarn im Einsatz“, berichtet die Tafel-Teamleiterin Sarah Venkrbec. Sie organisiert seit drei Jahren ehrenamtlich den Einsatz der Freiwilligen im Raum Melk. Die Nachfrage sei stetig gestiegen. „Die Tafel ist über die Jahre bekannter geworden. Anfangs war die Hemmschwelle für viele sehr groß“, so Venkrbec. Im Schnitt kommen rund 40 Menschen zur Ausgabestelle nach Pöchlarn. „Insgesamt versorgen wir jeden Samstag rund 150 Menschen – die, die zur Ausgabe kommen, holen ja auch Lebensmittel für ihre Familien“, erklärt Venkrbec. Zählt man die Einsatzstunden des Tafel-Teams zusammen, kommt man auf 40 Stunden pro Woche. „Neue Helfer sind immer herzlich willkommen“, macht Venkrbec aufmerksam. Sie und ihre Mitfreiwilligen konnten im Vorjahr beeindruckende 31.500 Kilogramm Lebensmittel vor der Tonne bewahren.
Verbot und Freiwilligkeit
In Tschechien wurde Anfang des Jahres ein Gesetz vom Verfassungsgericht für rechtens erklärt, das große Supermarkt-Ketten dazu verpflichtet, unverkäufliche Lebensmittel kostenlos an Hilfsorganisationen abzugeben. Ähnliche Gesetzgebungen findet man in Frankreich und in der Wallonie. In Österreich gibt es so ein Gesetz nicht, man setzt auf Freiwilligkeit. 2017 wurde vom Bundesministerium für Nachhaltigkeit und Tourismus mit den österreichischen Lebensmittelunternehmen ein sogenannter „Pakt gegen Verschwendung von Lebensmitteln“ geschlossen. Damit will man sich zu dem von den Vereinten Nationen formulierten Ziel, die weltweite Lebensmittel-Verschwendung bis 2030 zu halbieren, bekennen. So berichtete das Ministerium im September 2018, dass innerhalb eines Jahres 12.250 Tonnen Lebensmittel an soziale Einrichtungen abgegeben wurden – das seien fast doppelt so viele wie im Jahr 2014. Mehr Maßnahmen fordert indes der WWF, der in Österreich ein Fehlen von konkreten Maßnahmen zur Vermeidung von Lebensmittelabfällen ortet.
Abliefern und Schlichten
Schmelzer und Porsch sind mittlerweile mit einem randvollen Auto wieder in Pöchlarn. Sie machen sich auf ins Volkshaus, die erste Fuhr muss abgeliefert werden. Dort stehen schon sechs weitere Freiwillige bereit, um die Waren für die Ausgabe zu sortieren. Während sie im Volksheim die Lebensmittel schlichten, geht es für die beiden Rot-Kreuz-Ehrenamtlichen wieder zurück nach Melk, wo die letzten Stationen des Tafel-Tages angefahren werden. Nochmals füllt sich das Rettungsauto. Kurz nach 18 Uhr und kurz nach Ladenschluss der meisten Supermärkte fahren die zwei Jungpensionisten erneut nach Pöchlarn. Nun wird das in Melk gerettete Essen abgegeben. Das Tafel-Team im Volkshaus hat inzwischen ganze Arbeit geleistet. Wie in einem Supermarkt stehen in einem Saal unzählige Waren fein säuberlich sortiert auf den Tischen bereit. Bereit sind auch die ersten Tafel-Klienten, die sich in einem Nebenraum sammeln und auf den Beginn der Ausgabe warten. Bevor es aber so weit ist, müssen sie sich mit einer Berechtigungskarte bei einem Tafel-Mitarbeiter registrieren und eine Nummer nach dem Zufallsprinzip ziehen. Denn wer zuerst in den Essens-Saal darf, entscheidet das Los.
Die Ausgabe beginnt
Um 19 Uhr hat das Warten für die Klienten und der Arbeitstag von Porsch und Schmelzer ein Ende. Letztere machen sich auf den Heimweg, erstere Richtung Ausgabe. Ein Klient nach dem anderen wird in den Saal gebeten. Gemeinsam mit dem Tafel-Team werden die Lebensmittel, die gebraucht werden, ausgewählt und die Einkaufstaschen kostenlos gefüllt – gefüllt mit guten Lebensmitteln, die im Müll landen hätten sollen.
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